: Praktisch ausgelöscht
■ „Dienstag“, 22.45 Uhr, Hessen 3
Aidskranke demonstrierten am 26.9. 1991 vor dem Schlußgottesdiesnst der katholischen Bischofskonferenz im erzkonservativen Fulda gegen die Kirche. Jochen Hick und P.C. Naumann hielten die Ausschreitungen der Gläubigen gegen die Demonstrierenden in ihrem auf der Berlinale gezeigten Film Willkommen im Dom fest, der in Dienstag auf Hessen3 seine Fernsehpremiere erlebte. Rabiate Gebetaufsager, so konnte man sehen, schlugen Schwulen auf die Nase und traten sie in den Hintern. Frauen forderten vereinzelt Vergasung. In der Fuldaer Drogerie „Schlecker“ dürfen keine Kondome geführt werden, da das Gebäude der Kirche gehört. Die Parole der Armee der Barmherzigen bringt Erz- und Militärbischof Dyba auf den Punkt: Infizierte „müssen nur noch selbst sterben, sie können auch für die Zukunft der Menschheit nichts einbringen. Sie werden praktisch ausgelöscht.“ Selbst trainiertes journalistisches Taktgefühl hilft einem angesichts dieser Sprüche nicht mehr weiter: Zwangsläufig fühlt man sich an die Nazi-Ideologie erinnert.
Wer also etwas verändern will mit demokratischen Mitteln des Journalismus, muß etwas dagegensetzen und darf nicht kleckern, sondern muß klotzen. Wie ein investigativer General Guderian feuert HR-Redakteur Wilhelm von Sternburg eine ganze Stalinorgel plazierter Zurechtweisungen gegen Schwulenhasser ab. Dreißig Minuten des Magazins Dienstag sind gehaltvoll wie 45 Minuten der üblichen Sorte. Es gibt nicht dieses moderate Drumherumreden und halbherzige Daraufhinweisen. Gegen einen Blick in bundesdeutsche Hetero-Schlafzimmer, so von Sternburg, verblasse selbst Freuds Sexuallehre zum Ammenmärchen. Die Empörung ist echt. Die Vergleiche stimmen. Wer nach 1945 als Schwuler Glück hatte und nicht im KZ gelandet war, der konnte schon in den 50ern wieder von demokratischen Richtern wegen praktizierter Homosexualität verknackt werden.
Zentraler Punkt in diesem journalistischen Powerplay ist, daß man sich auch als Heterosexueller angesprochen fühlt. Es geht nicht nur um eine einzige, sondern generell um Minderheiten. Die Pogrom-Stimmung gegen Homosexuelle (allein 100 registrierte Gewalttaten pro Jahr gegen Schwule in Berlin) ist symptomatisch für eskalierende Ausschreitungen gegen Randgruppen. Absurderweise werden diese Gewalttaten unter anderem auch von anderen Minderheiten wie zum Beispiel türkischen Jugendlichen ausgeübt. Die in Aggression sich äußernde Angst vor Schwulen ist die massive Angst vor der eigenen Sexualität. Aufgebracht und ratlos sitzt man nach der Sendung da und fragt sich: Was fehlt den Leuten, die keine Schwulen mögen und ihre Aversion auf solch rabiate Weise äußern? — Vielleicht ein entspannter Beischlaf am Nachmittag in Verbindung mit einem netten Wort vom Nachbarn beim Verlassen der Wohnung? Wer weiß? Manfred Riepe
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