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Die Tücken des Rassismus

„Tsiganologie“, die Wissenschaft von den Roma und Sinti, fängt in Deutschland neu an/ Selbst die antifaschistische „Zigeuner“-Wissenschaft hängt an der langen Leine des Rassismus/ Könnten die Roma und Sinti auch Subjekte „ihrer“ Wissenschaft sein?  ■ Von Richard Herding

Das Verhältnis zu den Roma und Sinti, Fremdbezeichnung „Zigeuner“, ist aktuell vielleicht das schärfste Kriterium für ethnozentristische Vorurteile. Landauf, landab erleben wir, daß „eigentlich“ nicht ausländerfeindliche Menschen, ob im saarländischen Lebach, in Bremen, in Düsseldorf oder in Hoyerswerda, erklären, hier hätten sie ihre Grenze — diese dreist bettelnden und klauenden Ankömmlinge aus dem Balkan seien sozial „nicht integrierbar“, sie müßten weg.

Das bezieht sich meist auf die heimatlosen Roma aus Jugoslawien und Rumänien, aber auch die lange Zeit hier ansässigen Sinti werden in den ex-liberalen „Einmal ist Schluß“- Chor einbezogen. „Wir wissen von dieser Kultur einfach zu wenig“, begründete eine sozialdemokratische Politikerin in Bremen 1990 ihr Okay für den Massenabschiebungsbeschluß gegen Roma aus ihrem Bundesland. Dieser erste Massenabschiebungsbeschluß gegen Nachkommen von „rassisch Verfolgten“ der NS-Zeit im Jahr der deutsch- deutschen Einheit hatte ausreichend symbolische Bedeutung für die, die es wahrnehmen wollten.

Daß wir von der Roma- und Sinti- Kultur zu wenig wissen, stimmt so sehr, wie die daraus gezogene Rechtfertigung des Rausschmisses infam ist.

Um so neugieriger waren wir, als noch im selben Jahr der erste Band der Studien zur Tsiganologie und Folkloristik erschien. Was bringt in dieser Situation die Wissenschaft? Können wir hoffen, daß ihre Ergebnisse auf die Dauer einen Grundkonsens in der argumentierenden Öffentlichkeit begründen? So wie ein Grundkonsens den Antisemitismus zwar nicht verhindert, aber ihn doch allgemein mit einem derart üblen Gestank versehen hat, daß sich selbst die neuen Nazis nicht offen zu ihm bekennen können?

Wir sind auf Schwierigkeiten mit der Tsiganologie vorbereitet durch die heftige Kritik, die zum Beispiel in der Zeitschrift der ‘Gesellschaft für bedrohte Völker', pogrom, immer wieder an ihr geübt worden ist. Eher zoo-logisch als ethno-logisch sei der Blick der TsiganologInnen, hieß es: Mit romantischer Liebe und sozialpädagogischer Strenge würden zum Teil die kursierenden Vorurteile eher bestärkt als erklärt und aufgedeckt. Die Roma und Sinti seien bloße Objekte der ForscherInnen, am besten sei die Öffentlichkeit beraten, wenn sie jeden Ecu, der zur Zeit in die Tsiganologie fließe, direkt den selbstbetriebenen Hilfsprogrammen der Roma und Sinti gebe.

In Deutschland haben die Studien zur Tsiganologie und Folkloristik einen Herausgeber, dem wir ein Standardwerk über die Nazi-„Zigeuner“-Verfolgung verdanken: Joachim Hohmann. Und sie kommen zur Zeit einer engagierten Roma- und Sinti-Politik, für die der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg (Sprecher: Romani Rose) und die Roma- und Cinti-Union in Hamburg (Sprecher: Rudko Kawczynski) stehen. Zudem gibt es die ‘Gesellschaft für bedrohte Völker', verschiedene Kreise der Evangelischen Kirche und der Grünen zur Unterstützung der Ansprüche von Roma und Sinti, zum Beispiel auf Entschädigungszahlungen für den Nazi-Völkermord und auf Bleiberecht für Flüchtlinge.

Eigentlich gute Bedingungen für eine Tsiganologie, die jener Gruppe, die ihr Gegenstand ist — bei aller selbstverständlichen Unabhängigkeit der Wissenschaft auch von Solidaritätspolitik — nicht in den Rücken fällt.

Hohmann setzt denn auch im Vorwort der ganzen Reihe das Ziel, die „Integrierung des Zigeunervolks unter Wahrung seiner kulturellen Eigenheiten“ zu fördern. Das Unrecht, das den „Zigeunern“ „im Namen Deutschlands (...) zugefügt wurde“, dürfe „niemals vergessen sein“. Er stellt „die Juden“ und die „Zigeuner“ als rassisch Verfolgte der Nazis nebeneinander und spricht von dem Vorsatz, auch andere Ethnien und Kulturen darzustellen.

Deutschland: „Hirsche, Sauen, Zigeuner geschossen“

Der erste Band, Verfolgte ohne Heimat — Geschichte der Zigeuner in Deutschland, ist eine Weiterführung von Hohmanns eigener Geschichte der Zigeunerverfolgung in Deutschland von 1981 (neu bei Campus 1988). Die „Zigeuner“-Verfolgung im Mittelalter und in der Neuzeit wird drastisch, bildhaft und differenziert anhand von zeitgenössischen Texten und Bildern dargestellt. Vom Barock-Autor Grimmelshausen (Simplicius Simplicissimus) wird die „Courasche“ herangezogen, eine schöne und weltgewandte Frau, die sich „Zigeunern“ anschließt und mit ihnen ein zugleich bewundertes und verabscheutes Leben teilt. Später ist sie bei Brecht als Mutter Courage wiederzufinden, mit den gleichen Merkmalen des Überlebens gegen alle anerkannten Strukturen gezeichnet.

Von den vielen makabren Zeitdokumenten aus dem 18.Jahrhundert sticht eines ins Auge, in dem als Jagdbeute eingetragen steht: „Geschossen ein starker Hirsch (...), zehn geringe Sauen (...), ein Zigeunerkind.“ Daß die in Osteuropa verbreitete Unterdrückung von Roma in Sklaverei auch in Deutschland vorkam („unentgeltliche Arbeitskräfte“), beachtet Hohmann im Gegensatz zu anderen Darstellungen. Himmlers anfänglicher Überlegung, die „rassereinen Sinti“ von dem geplanten Völkermord auszunehmen, schenkt er keine Bedeutung. Er schildert die Vernichtung in den KZs, vor allem die Vorbereitung und Legitimierung durch die RassenbiologInnen Robert Ritter und Eva Justin.

Das Grauen der Dokumente wird allenfalls dadurch hier und da gelindert, daß sich die industriellen Massenmordbürokraten über die zutiefst nichtbürokratische Lebensorganisation der Sinti und Roma beklagten, die eine planmäßige Erfassung des Menschen-„Materials“ erschwerte. Hohmann streift auch Schwierigkeiten im Verhältnis von Juden zu Roma, die teilweise als „Arier“ galten. Er vergißt nicht, auf die fast reibungslose Gleichschaltung der Wissenschaft mit dem Nazi-Rassismus hinzuweisen. Als Konsequenz aus seiner Studie unterstützt er die Forderung nach Entschädigung für die Roma. Die Zahl der Opfer schätzt er auf eine halbe Million, wobei diejenigen eingeschlossen sind, die bei den Pogromen Osteuropas starben, denn die Nazis stachelten auch die „nichtindustrielle“ Ermordung von Roma außerhalb der Lager an.

Hohmann schrieb eine hervorragende deutsche „Zigeuner“-Geschichte. Einige Widersprüche im Gebrauch des Rassenbegriffs vor und während der Naziherrschaft ließen es wünschenswert erscheinen, den Pariah-Begriff des Roma-Forschers Ian Hancock (ansässig in Texas und selbst Roma) heranzuziehen, für dessen Roma-Studie Das Pariah- Syndrom (Karoma Publishers, Ann Arbor, Michigan, USA) von Roma- Vertretern bisher vergeblich ein deutscher Verlag gesucht wird. Denn die Geschichte von Vertreibung und Sklaverei könnte helfen zu erklären, warum die Nazis aus „rassereinen Arierverwandten“ letztlich doch Vernichtungsobjekte machten.

Was ist Roma-Diskriminierung, was nicht?

Mit dem zweiten Band der Reihe, Engelbert Wittichs Beiträge zur Zigeunerkunde, fängt der Streit um Roma-Feindlichkeit an. Hohmann hat darin Schriften des „Zigeuner“-Forschers Wittich herausgegeben, die meist zwischen 1910 und 1930 verfaßt wurden und die Lebensweise der „Zigeuner“, ihre Gebräuche, Gedichte, Musik und anderes schilderten, sie zudem gegen die Herabwürdigung durch das „christliche“ Abendland glühend verteidigten. Wittich gab auch eines der ersten Romanes-Wörterbücher heraus. Das Problem: Wittich fällt an wenigen Stellen in den Pauschalurteils-Chor mit ein, wonach die „Zigeuner“Innen beim Betteln und Stehlen, auch bei kunstvollen Betrugsmanövern an Nicht-Roma, keine Skrupel hätten. Die „Interessenvertreter des Heidelberger Zigeuner-Verbandes“ — warum Hohmann hier nicht die Eigenbezeichnung „Sinti und Roma“ verwendet, bleibt unerfindlich — seien aus diesem Grund „besorgt um das Bild“ ihres Volkes. Aber, so Hohmann, der „positive Gesamteindruck“ sei doch nicht zu bestreiten, und damit solle sich der Verband zufriedengeben.

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Vermutlich zeigt aber der Protest des Verbandes deutscher Sinti und Roma, daß eben die Ansprüche der Diskriminierten sich erhöht haben. Sie wollen weder durch Schriftsteller aus den Reihen der Nicht-Roma unter die Fittiche genommen werden, mögen diese auch noch so wohlwollend sein, noch wollen sie Vorurteile selbst in Details dulden. Rassismus steht eben nicht außerhalb von Geschichte, sondern verändert sich. Die Anti-Rassisten der USA, schwarz oder weiß, mußten hinzulernen, als Ende der sechziger Jahre die „Schwarzen Panther“ bislang akzeptierte Begriffe wie „Die Farbigen“ ächteten. Heute richtet sich auch das Weiße Haus danach.

„Naturrein, starke Rassekraft“: „guter“ Rassismus?

Den dritten Band, Die materielle Kultur der rumänischen Zigeuner (1923) von Martin Block, nahmen wir mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis: Damit hatte sich der Verfasser 1936 die Lehrbefugnis an einer reichsdeutschen Universität erworben. Heutige Roma-Wissenschaftler wie der erwähnte Hancock rechnen Block zu den Wegbereitern der Nazis. Hohmann registriert in der Einleitung ein paar „befremdliche Formulierungen“, hält aber die „humanistische“ Einstellung dagegen. Der mutige Feldforscher Block lernt Romanes und schildert mit aller Zuneigung, wie er in „Schmutz und Läusen“ bei den Roma lebt, ihre Lieder in ihrer Sprache singt und die Mädchen ihm um den Hals fallen. Auch beklaut worden ist er niemals. Das Wirtschaften der Roma ist allerdings „symbiotisch“ und „parasitär“, sie können ohne ihr „Wirtsvolk“, die Rumänen, nicht existieren und leben von Diebstahl und Betrug. Blocks Geheimnis: ein positiv gewendeter Rassismus. Block bewundert die „starke Rassekraft“ der Roma, sie hätten sich als „Naturvolk“ erhalten, repräsentierten eine „Kindheitsstufe der Menschheit“. Vorstellbar, daß solche Gedankengänge mit Pate gestanden hatten, als Himmler zeitweise „rassereine Zigeuner“ als Zoo-Spezies am Leben zu halten vorhatte. Auch nahm Block keine „anthropologischen Messungen“ vor, freilich entschuldigt er sich gleichsam, er habe das eben bei der teilnehmenden Beobachtung nicht gekonnt.

Doch auch bei diesem „wohlwollenden Rassisten der Seele“ ist die Vernichtung vorprogrammiert: „Der Wirt aber lebt kräftiger weiter, wenn der Parasit ausgemerzt ist.“ Rhetorische Zwangsanpassung an die Nazis? Mag sein — aber ganz und gar unmöglich, daß Hohmann in seinem Lebensbild Blocks diese Verbindungsstelle zum Roma-Holocaust ausblendet. Hohmann bezieht sich auf die Angriffe der SS-Zeitung auf Block wegen seiner roma- freundlichen Gesinnung und der Aussage, die Roma seien ein über die indische Herkunft „mit uns verwandtes“ Volk, keine „Bastarde“. Das aber mögen die Rassisten bitte unter sich ausmachen. Hohmann kennt nur „gut“ und „böse“, keine Geschichte des Rassismus mit seinen Widersprüchen und Veränderungen.

„Bastarde, erblich kriminell“: Ausrottungs-Rassismus

Wie als Gegengewicht zu Block enthält der vierte Band, Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie, eine gründliche Abrechnung mit denjenigen RassistInnen, die sich bei den Nazis durchgesetzt hatten: den „Bastard“-ForscherInnen, die mit Schädelmessungen, Herkunftstabellen, polizeilichen Roma-„Jagden“ die Basis für die Ausrottung besorgten. Wer die Lektüre der 624Seiten mit seinen Magenbeschwerden ausbalanciert hat, dem wird die deprimierende Erkenntnis von der Kontinuität des Nationalsozialismus greifbar. Robert Ritter und Eva Justin kamen von der Kriminalbiologie, die schon seit Beginn des Jahrhunderts als Ergebnis „naturwissenschaftlichen“ Machbarkeitswahns blühte. Ritter und Justin jagten die Roma und Sinti als „gute Kunden“ der Polizei, suchten sie später in den KZs auf, in die sie aufgrund ihrer „wissenschaftlichen“ Analyse verschleppt worden waren, versprachen für kooperatives Verhalten Vergünstigungen — klar, Ermordete lassen sich schlecht befragen.

Nach 1945 traten Ritter und Justin in den beamteten Dienst der sozialdemokratisch regierten Stadt Frankfurt am Main; Ermittlungen gegen sie wurden eingestellt. Protokolle aus den Prozessen gegen die SchreibtischmörderInnen der Sinti und Roma, die Hohmann mitveröffentlicht, zeugen von fortdauerndem Unschuldsbewußtsein. Die Frage, ob sie vom Roma-Holocaust gewußt hätten, wird allemal reduziert auf das Problem, daß der „Auschwitz-Schnellbrief“ zu hastig abgeheftet worden sei. Arbeitsteilige Staatsverbrechen werden eben auf diese Weise exekutiert, und auf makabre Weise hat so ein Protokoll vielleicht nicht Unrecht, wenn es behauptet, ganz im Gegensatz zu den Anschuldigungen verdankten die aus den KZs davongekommenenen Roma dem Robert Ritter geradezu ihr Leben: Jawohl, wenn die Aufbewahrung als Versuchskarnickel den Vergasungszeitpunkt ein wenig hinausgeschoben hat, gibt es da eine statistische Wahrscheinlichkeit.

Welche Roma-Studien sind „roma-fair“?

Die Studien zur Tsiganologie und Folkloristik sind Sprengstoff. Vier Bände Pflichtlektüre für alle, die sich mit Rassismus im allgemeinen und mit Sinti und Roma im besonderen beschäftigen, dem Hauptvorwand für Rassismus im heutigen — um die neuen Nazis zu zitieren — „Zigeunerland Deutschland“. Joachim Hohmann hat hervorragend ausgewählt und sorgfältig herausgegeben. Taschenbuchausgaben zu neun Mark achtzig stünden der Reihe besser an als sündhafte Bibliothekspreise. Was einen zweiten Schauder bei der Lektüre der Studien ausmacht, ist das Fehlen der Einsicht, daß heute rassistisch sein kann, was es gestern vielleicht nicht war, nämlich eine autoritäre, paternalisierende Roma- Freundlichkeit, die über die eigenen Sichtweisen, Begriffe, Ansprüche der Getroffenen hinweggeht.

Rassismus ist allemal auch das, was die Verfolgten als Rassismus definieren. Wenn die Tsiganologie so viel aus der Kritik der Roma und Sinti lernen würde, hätte sie ihre dringend benötigte Zukunft.

Michael Frost, Simone

Heimannsberg, Richard Herding

(Sinti-/Roma-Arbeitsgruppe

beim Informationsdienst: Netzwerk

Alternative Publizistik, Bremen)

Studien zur Tsiganologie und Folkloristik. Herausgegeben von Joachim S. Hohmann. Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main.

Band1: Joachim S. Hohmann: Verfolgte ohne Heimat — Geschichte der Zigeuner in Deutschland. 1990, 194Seiten, 59DM.

Band2: Engelbert Wittich: Beiträge zur Zigeunerkunde. Herausgegeben von Joachim S. Hohmann. 1990, 233Seiten, 70DM.

Band3: Martin Block: Die materielle Kultur der rumänischen Zigeuner. Herausgegeben von Joachim S. Hohmann. 1991, 292Seiten, 84DM.

Band4: Joachim S. Hohmann: Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie — „Zigeunerforschung“ im Nationalsozialismus und in Westdeutschland im Zeichen des Rassismus. 1991, 624Seiten, 98DM.

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