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Den Hunger im Gedächtnis

Im alten spanischen Fürstentum Asturien bangen die Bergleute um ihre Zukunft  ■ AUS MIERES ANTJE BAUER

Paxio 12 Kilometer“: Hinter dem Wegweiser geht es auf einer gewundenen Landstraße hügelan; talabwärts verschwinden die Hochhäuser der asturischen Kleinstadt Mieres im Kohlendunst. Noch erkennbar aus der Ferne: die Autobahn und daneben die Eisenbahnlinie.

In den vergangenen Monaten war dies heiß umkämpftes Gebiet. Lagen Baumstämme und Wackersteine quer über den Linien, freuten sich die Bergarbeiter. Fuhren Autos und Eisenbahn unbehelligt, hatten die behelmten und beknüppelten Verteidiger des Staates gesiegt.

Kommunist unter Stroh

Grüne Wiesen. Auf Koppeln weiden Pferde, in Gemüsegärtchen stehen hochgeschossene Kohlköpfe. In dieser ländlichen Idylle wurde Juan geboren. 1937, als der Bürgerkrieg tobte. Juan Diaz Lorenzo, 55, ehemaliger Kohlehauer, heute Frührentner. Kommunist.

Der Vater, ebenfalls Kommunist, starb vor Juans Geburt. Oder er wurde ermordet, das weiß Juan nicht so genau. „Er hatte eine Verletzung durch eine Granate und lag im Krankenhaus der Kreisstadt Aviles. An einem Sonntag haben sie ihn mit einem Pferd von Mieres abgeholt, und er kam mit seinen Krücken hierher nach Paxio. Am Montag kehrte er ins Krankenhaus zurück, und am Dienstag kam die Nachricht, er sei tot. Er war bereits begraben, und sie haben meiner Mutter nur noch ein falsches Gebiß und eine goldene Uhr von ihm mitgebracht.“

Wir sitzen in der Einbauküche von Juans neuem Haus — Juan, sein Schwiegersohn José, seine Tochter Maria und sein Enkel Damian. Vom Fenster aus sieht man hinunter auf die verwitterten, dunklen Ziegel- und Strohdächer der alten Häuser von Paxio. Weißgekalkte, niedrige Häuschen, dazwischen schlängeln sich asphaltierte Gassen. In der Einbauküche ist es kalt. Die Hausfrau ist schlachten gegangen, und deshalb wurde gar nicht erst eingeheizt. Bäuerliche Sparsamkeit.

Juan erinnert sich: Nach dem Tod ihres Mannes fuhr die Mutter, die zwei Kinder durchzubringen hatte, gelegentlich in die benachbarte Provinz Leon und kaufte dort billig zwei Kilo trockene Bohnen ein, um sie in Mieres weiterzuverkaufen. „Wenn die Zivilgardisten sie im Zug erwischten, nahmen sie ihr die Ware weg.“ Dann gab es wieder nur warmes Wasser zum Abendessen.

Im Alter von 15 ging Juan in die Kohlenmine in Mieres, wie alle hier in der Gegend. Verdiente sieben Peseten am Tag. 100 Peseten kostete damals ein Liter Öl. „Ich war sieben, als ich zum ersten Mal Fleisch aß. Es gab ein Fest, und dafür wurde ein Huhn geschlachtet. Stell dir das mal vor. Aber das war hier bei allen so. Bis 1961, 1962 wurde hier in den Dörfern überall gehungert.“

1962 — ein magisches Datum in Asturien. Damals brach ein Streik aus gegen die Hungerlöhne im Bergbau. Als Franco den Ausnahmezustand über die Region verhängte, breitete sich der Streik wie ein Lauffeuer über ganz Spanien aus. In den Verhandlungen mit den spontan entstandenen Arbeiterkommissionen gaben die Kohlebarone nach.

Die Arbeiterkommissionen sollten sich in den folgenden Jahren zu einer starken syndikalistischen Widerstandsorganisation entwickeln. 1967 wurden die Kohleminen in Mieres verstaatlicht — wirtschaftlich waren sie für die Kohlebarone nicht mehr rentabel — und zusammen mit anderen Minen der Region zum Unternehmen „Hunosa“ zusammengefaßt.

Damals verdiente Juan als Hauer immerhin genug, um seine einzige Tochter nach Aviles ins Internat schicken zu können — zu den Nonnen, wie sie vorwurfsvoll anmerkt — und hinterher an die Uni. Und um dieses Haus bauen zu können, das sich über Paxio erhebt.

Teuer genug hat er es bezahlt: Der Preßluftbohrer, den er jahrzehntelang in die Kohle gestemmt hat — siebeneinhalb Kilo acht Stunden täglich— hat seine Wirbelsäule zerrüttet. „Schau her“, Juan zieht seinen Pullover ein Stückchen hoch; darunter kommt ein orthopädisches Korsett zum Vorschein. „Ohne das kann ich mich überhaupt nicht rühren.“ Der Kohlestaub hat sich in seinen Lungen festgefressen, so daß er heute unter chronischer Bronchitis leidet. Unter der ständigen Dunkelheit und dem Staub haben auch seine Augen gelitten: er trägt eine dicke Brille.

1.000 DM Pension und einen kaputten Körper hat die Mine Juan eingebracht. Mit 50 Prozent ihres letzten Lohns werden Hunosa-Arbeiter pensioniert, die, wie Juan, aufgrund ihrer schlechten Gesundheit schon vor dem offiziellen Pensionierungsalter von 55 Jahren aufhören müssen. Doch in zwei Jahren wird Juan 100 Prozent des dann geltenden Lohns als Pension bekommen — knapp 4.000 DM. „Das ist der Vorteil des Bergbaus“, erläutert Juan. „Die hohe Pension. Deshalb muß man um diese Arbeitsplätze kämpfen.“

Kumpel statt Ingenieur

Die Tochter Maria hat sich, trotz Abitur und Studium, nicht in einen Ingenieur aus Mieres verliebt, sondern in einen Bergarbeiter aus Paxio. Hat ihn geheiratet, ein Kind gekriegt, das Studium abgebrochen. Wenn José zu spät von der Arbeit kommt, macht sie sich Sorgen. „Letztes Jahr um diese Zeit sind vier umgekommen. Da ist ein Förderband in Brand geraten.“ Für Grubenunglücke hat man hier ein gutes Gedächtnis.

José, schmal und still, entspricht nicht dem typischen Bild des Kumpels. Auch er ist mit sechzehn in die Zeche eingefahren. Nur dreizehn Jahre jünger als sein Schwiegervater und Kommunist wie dieser, hat er sich bereits an den Streiks der 60er Jahre beteiligt. Auch während der wochenlangen Streiks in diesem Winter mit ihren ständigen Auseinandersetzungen mit der Polizei war José präsent.

Daß Streiks heute nicht mehr, wie zu Zeiten der Untergrundarbeit, von der KP erzwungen werden, sondern alle Arbeiter darüber entscheiden können, findet er positiv, auch wenn er Nachteile sieht: „Heute ist es viel schwieriger als früher, jemanden vom Streik zu überzeugen“, klagt er. „Wenn ein junger Arbeiter geheiratet hat, ist es schwierig, ihn zum Kampf zu bewegen. Dann braucht er erst mal eine gute Wohnung, ein neues Auto — all das brauchten wir früher nicht.“ Früher lebte man von der Hand in den Mund. Heute müssen am Monatsende erst einmal die vielen Raten abbezahlt werden, die sich die meisten Haushalte aufgebürdet haben.

12 Rinder hält sich die Familie. Eine Kuh für die Milch und Kälber zum Verkauf. Eier kommen von den eigenen Hühnern, und jeden Winter wird ein Schwein geschlachtet. Im Haus von Juans Schwester schneidet gerade die erweiterte Familie das gestern gemetzelte Schwein in kleine Stücke. Da kommt Pfeffer drauf und roter Paprika und Knoblauch und Salz, und in ein paar Tagen wird die Masse in Därme gestopft und bildet das ganze Jahr über als Wurst die Grundlage der Mahlzeiten. In blutbespritzten weißen Kitteln und den traditionellen Holzpantinen stehen die Frauen hochrot im Schlachtkeller und schwingen das Messer. Im Hintergrund ruhen die Fässer des ebenfalls selbstgemachten Apfelweins — für den nächsten Sommer ist vorgesorgt.

Niemand hier käme aber auf die Idee, etwa von der Landwirtschaft leben zu wollen. Die EG-Milchquoten haben Asturiens Kuhherden bereits dezimiert. Und nun ist selbst das, wovon in den letzten dreißig Jahren gelebt wurde, in Gefahr. Tausende von Arbeitsplätzen sollen in den nächsten beiden Jahren bei Hunosa gestrichen werden (s. Kasten). Und dann? „Für uns werden die wirtschaftlichen Probleme nicht so schlimm sein“, erklärt José. „Ich arbeite seit 25 Jahren in der Mine und bekomme meine Pension. Aber wir machen uns große Sorgen um die Zukunft unserer Kinder.“

Zum Mittagessen setzt sich die Großfamilie in der kleinen Küche zusammen. An Schlachttagen wird gemeinsam gearbeitet und gemeinsam gegessen. All diese gedrungenen, rotbackigen Bauerngesichter kennen die Mine auswendig. Hassen sie, weil sie das Leben verkürzt. Lieben sie, weil sie ihr Leben dort verbracht haben.

„Ich glaube, die Mehrzahl der Bergarbeiter würde sehr gerne woanders arbeiten, wenn sie dasselbe verdienen würden“, vermutet José. Doch selbst er mit seinen 43 Jahren glaubt nicht, jemals eine andere Arbeit zu finden. „Es ist schon absurd. Früher galt einer, der in der Mine arbeitet, als armer Schlucker. Heute ist er ein Privilegierter.“

Grellbunte Jugend

Später am Nachmittag, zurück in Mieres, beißt dichter Kohlestaub. Neben dem Schacht Barredo, wochenlang Schauplatz der Auseinandersetzungen mit der Polizei, liegt das Altstadtviertel. Die niedrigen, schwarz eingestaubten Häuser scheinen direkt von Paxio hierher verpflanzt zu sein.

Die Herkunft des Reichtums von Mieres ist in der Altstadt unübersehbar. Das neue Stadtzentrum will sie aber leugnen: hohe Klinkergebäude, noch unberührt vom Kohlenstaub, dazwischen gepflasterte Fußgängerzonen, von schütteren Bäumchen gesäumt. Jugendliche in grellbunten Anoraks trinken in verräucherten Kneipen Cola.

Doch geht Sorge um. „Wenn es im Bergbau schlecht geht, können viele hier zumachen“, versichert der Eigentümer des „Hostal Casino“. Deshalb bedarf es keines Nachdrucks, damit beim Generalstreik alle Geschäfte schließen.

Juan und Maria haben ihr Leben in Paxio verbracht — nun denken sie daran, wegzuziehen. „Wir können doch der Zukunft unseres Sohns nicht im Wege stehen. Und hier gibt es für ihn keine.“ Bergarbeiter soll er jedenfalls nicht werden.

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