Der Revolutionär im Sumo-Ring

Unser Korrespondent erkennt: Der Sumo-Meister Konishiki befreit Japan von einer jahrhundertealten Tradition  ■ Aus Tokio Georg Blume

Weder die deutsche Wiedervereinigung noch der US-amerikanische Sieg im Golfkrieg haben vermocht, Japans nationales Selbstbewußtsein auch nur anzukratzen. Doch was den Großmächten des Westens bisher mißlang, mag einem unwiderstehlichen Ureinwohner aus Hawaii glücken: Der 261 Kilogramm schwere Amerikaner Salevaa Atisnoe, genannt Konishiki, schickt sich an, Japan dort zu besiegen, wo das Land sich unbesiegbar dünkt.

Statt zu verklären, ganz einfach besiegen

Die kampfbetonte Sprache ist hier angebracht. Denn beim Sumo, Japans einzigartiger dreihundertjähriger Ringsporttradition, geht es um nichts anderes. Seit Jahrzehnten haben die Karikaturisten aller Länder ein gewinnsüchtiges Nippon in der Gestalt jener scheinbar unbezwingbaren Sumo-Ringer gezeichnet. Ihre fremdartige Erscheinung, festgehalten auf den Bambusrollen japanischer Hofmaler, faszinierte schon die europäischen Impressionisten. Doch wer wäre je auf den Gedanken gekommen — statt ihn zu verklären —, Japans Sumo-Mythos ganz einfach zu besiegen?

Konishiki (28) will genau das. Er weiß, es kann ihm nur an jener Stelle gelingen, wo vor ihm kein anderer Ausländer gestanden hat: Konishiki muß „Yokozuna“ (zu deutsch „Großer Sumo-Meister“) werden, muß jenen Titel erkämpfen, der in Japan mehr zählt als jeder sportliche Erfolg.

Denn alle Yokozuna — die Geschichte kennt ihrer noch keine hundert an der Zahl — sind Teil der japanischen Legende, die von der Sonnengöttin Amaterasu bis zum heutigen Kaiser Akihito irgendwo im Bewußtsein der Nation noch immer fortgeschrieben wird. Es ist die Legende von der Einzigartigkeit der Nation. Wenn Konishiki Yokozuna wird, hätte sie ein Kapitel weniger. Alle wissen, daß es hier ums Eingemachte geht. Als Konishiki am vergangenen Sonntag sein letztes Turnier gewann, verlas man die Gratulationen des amerikanischen Präsidenten live im japanischen Fernsehen. Nicht einmal George Bush wollte diesen Sieg verpassen. Doch kann es tatsächlich so weit kommen?

„Wir sollten keinen Ausländer im Namen der Internationalisierung Japans zum Yokozuna machen“, brüstete sich Sumo-Veteran Noboru Kojima vor wenigen Tagen in einem aufsehenerregenden Kommentar in der Monatszeitschrift 'Bungei Shunju‘.

Da können Ausländer nur verwirrt und beschämt sein

Kojima ist Mitglied jenes höchsten Komitees des japanischen Sumo-Vereins, das über die Auswahl eines Yokozunas entscheidet. In Konishikis Rang — als erster Ausländer hat er bereits die Auszeichnung des „Ozeki“ (Sumo-Meister“) errungen — galten bisher zwei aufeinanderfolgende Siege in den alle zwei Monate stattfindenden Sumo-Turnieren als hinreichend für die Ernennung zum Yokozuna. Doch niemand weiß, ob das Yokozuna-Komitee für Konishiki im Falle seines erneuten Sieges die gleichen Regeln gelten läßt.

Noboru Kojima ist nämlich überzeugt, daß Sumo „zu Japan gehört und in keinem anderen Land existiert“. Deshalb könnten ausländische Ringer nur „verwirrt und beschämt“ sein, wenn sie der japanischen Sitte und Tradition nacheifern wollten.

Das ist — noch nie dagewesene — offene Propaganda aus der höchsten Etage der Sumo-Welt gegen den derzeit erfolgreichsten Sumo-Kämpfer. Doch Konishiki, der seine Jugend lang amerikanischen Football spielte und dann Rechtsanwalt werden wollte, weiß sich zu wehren.

Er beherrscht die japanische Sprache mit einer Perfektion, die jedes seiner Interviews einem raffinierten Gegenangriff gleichen läßt, mit dem er die Anschuldigungen der Sumo-Hierarchie vor dem Millionenpublikum des Sports genauso erfolgreich zurückschlägt wie seine Gegner im Ring. Über seinen jüngsten Sieg befragt, antwortete Konishiki mit der Subtilität eines großen Revolutionärs: „Diese Freude werde ich als erstes meiner Frau mitteilen.“

Wer weiß, daß noch keine Frau jemals den Sumo-Ring betreten durfte — obwohl die Hälfte aller Sumo-Fans Frauen sind —, kann sich vorstellen, daß noch kein Turniersieger vor Konishiki je die Lust verspürte, ausgerechnet seiner Frau davon als erster zu berichten.

Für den ritualisierten Sport nicht weniger unüblich ist es, nach dem Sieg seine männlichen Trainingspartner in Freude zu umarmen. Konishiki tat das vor laufender Kamera. „Wer Japan kennenlernen will“, hat Saleeva Atisnoe einmal gesagt, „entdeckt beim Sumo eine ganze Menge.“ Inzwischen stehen die Dinge umgekehrt: Jetzt entdeckt Japan Konishiki. Niemand könnte auf das Land befreiender wirken.