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Heimliche Freuden fallender Engel

Aus Anlaß des 6.Internationalen Filmfestivals in Stuttgart erinnert sich unser Reporter an seine Kindheitskumpel hinter dem Bildschirm, Antagonisten der aufgeklärten Elternschaft. Und entdeckt den Hintergrund von Schweinchen Dick: die School of Violence. Plus Bericht von den besten bösen Wölfen des Festivals.  ■ Von Claus Christian Malzahn

Als ich noch ein kleiner Junge war — und das war vor etwa zwanzig Jahren — hatte ich an jedem Dienstag abend ein Problem. Zwischen 18.20Uhr und 19.00Uhr war mir zu Hause der Eintritt in das Wohnzimmer verboten. Alles Bitten und Betteln half nicht: Meine Erziehungsberechtigten verweigerten mir den Zutritt zu dem Raum, in dem der Fernseher stand. In dieser Zeit sendete das ZDF eine Zeichentrickserie, die sich bei mir und meinen Freunden höchster Beliebtheit erfreute. Die Stars dieser Cartoonfilme waren Hasen, Schweine, Kojoten, Katzen, Mäuse, Wölfe — selbst ein Vogel Strauß war darunter. Trotz dieser illustren Mischung verschiedenster Tierarten konnten meine Eltern der Sendung keinen pädagogischen oder aufklärerischen Impetus abgewinnen. Die Serie Schweinchen Dick verkörperte das genaue Gegenteil der Werte, die die 68er Generation auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Erstens: Duffy Duck, Schweinchen Dick, Road Runner, Bugs Bunny, Tweety, Sylvester und wie sie alle hießen waren amerikanische Staatsbürger. Zweitens: Sie waren brutal und hinterhältig und hatten mit Pazifismus nichts am Hut.

Natürlich habe ich mir damals die eine oder andere Folge von Schweinchen Dick doch angeguckt. Während meine Eltern glaubten, ich würde bei meinen Kumpels Briefmarken tauschen oder Hausaufgaben machen, amüsierten wir uns vor der Glotze köstlich über die explodierende Duffy Duck, über den plattgewalzten Kater Tom oder über den gegen eine Betonwand rasenden Road Runner. Meine Freunde und ich waren überhaupt nicht der Ansicht, daß diese Bilder gewalttätig und für unsere Psyche schädlich sein könnten. Schließlich standen unsere Trickfilm-Helden trotz ihrer Blessuren immer wieder auf.

In der vergangenen Woche, auf dem 6.Internationalen Trickfilmfestival in Stuttgart, habe ich sie endlich alle wiedergesehen. Ich erfuhr, daß Toons in den 30er und 40er Jahren geboren wurden, daß ihr Vater Tex Avery hieß, und daß Schweinchen Dick und seine Freunde in die School of Violence gingen. Für ihren Unterhalt sorgten die Filmmultis Warner Brothers und MGM. Die US-Cartoons liefen in Stuttgart im Nachtprogramm. Auch die Veranstalter des Festivals waren offenbar der Auffassung, daß es Kindern schaden könnte, wenn sie mitansehen, wie Kater Tom sein Gebiß verliert, wenn ihm Jerry einen Golfball in die Fresse schleudert. Merkwürdigerweiser kamen mir die Bilder heute viel gemeiner und gewalttätiger vor als damals — wenn auch nicht weniger witzig.

Ich kann mich gut daran erinnern, daß ich mit meinen Kumpels vor zwanzig Jahren die Frage erörtert habe, ob die Trickfilmfiguren lebendige Wesen sind. Ich vertrat damals die Auffassung, daß die Toons keine Erfindung seien, sondern im Inneren des Fernsehapparates tatsächlich existierten. Aber nur da! Und in diesem Fernseher galten eben völlig andere Gesetze als in der sogenannten wirklichen Welt. Die Abenteuer, die die Trickfilmfiguren zu bestehen hatten, bestärkten mich in dieser Einschätzung. Als Kater Tom von einem fiesen Köter gejagt wurde, rannte er über einen Abgrund hinaus. Doch Tom stürzte nicht ab. Er lief weiter durch die Luft, wurde langsamer — dann sah er erst uns Zuschauern direkt ins Gesicht, und dann nach unten. Erst die Erkenntnis, daß Laufen durch die Luft nicht möglich ist, ließ Tom abstürzen. Die Gesetze der Schwerkraft traten in den Cartoons erst in Kraft, wenn sich die Protagonisten in eine rationale Beziehung zum Zuschauer setzten. Aber die Toons wußten, das sie Toons — und damit unsterblich — waren, und wir wußten, das sie es wußten. Deswegen haben wir uns nie um sie geängstigt.

In einigen Filmen von Tex Avery entwickelten die Toons ein Bewußtsein von ihrem Medium. Sie beschwerten sich darüber, im falschen Film zu sein oder nörgelten, weil kein Vorspann gezeigt worden war oder weil sie plötzlich farblos über die Leinwand liefen. Die Enkel von Schweinchen Dick haben sich dieses Bewußtsein erhalten. Roger Rabbit kokettierte über neunzig Minuten lang mit den Beziehungen zwischen realen Schauspielern, Cartoon-Machern und Toons.

Der Preis für den witzigsten Film in Stuttgart ging an Manipulation von Daniel Greaves. „Er trickst mit den vielen kleinen Tricks, mit denen Trickfilmer ihre Trickfiguren austricksen“ — lautete die Begründung der Jury. Manipulation zeigt, wie ein kleines Männchen gezeichnet wird. Es erwacht zum Leben, greift sich einen Strohhalm, saugt Farbe in sich hinein, kämpft erfolgreich gegen die Zweidimensionalität seiner Existenz. Doch dem Künstler gefällt nicht, was er geschaffen hat, er zerknüllt das Papier, radiert dem Kleinen das Gesicht weg und piesackt die Figur, wo er nur kann. Zum Schluß klettert der Held aus dem Papierkorb — er hat seinen (fiktiven) Schöpfer ausgetrickst.

Einer der beiden Hauptpreise ging an die tschechoslowakische Produktion Reci, Reci, Reci von Michaela Pavlatova. Dieser Zeichentrickfilm zitiert ein verwandtes Genre: den Comic. Reci, Reci, Reci beobachtet Menschen an einem Nachmittag im Café. Die Figuren kommunizieren aber nicht über gesprochene oder gedruckte Sprache miteinander, sondern über grafische Symbole, die sprechblasengleich aus ihren Mündern hervorkommen. Ein Mann und eine Frau flirten miteinander, indem sie Puzzleteile von sich vorzeigen. Eins paßt zum anderen, nach kurzer Zeit schwebt ein Herz über den Köpfen der nunmehr Verliebten. Doch das letzte Puzzlestück, vom Mann beigesteuert, will partout nicht passen. Die beiden gehen im Streit auseinander. Reci, Reci, Reci wurde auch vom Publikum des Festivals zum besten Trickfilm gewählt.

In die Kategorie der Animationsfilme, die mit ihren grafischen Möglichkeiten experimentieren und den Trick zum Hauptthema machen, gehört auch Die Kreuzung von Raimund Krumme — der einzige deutsche Film, der einen der insgesamt neun Preise bekommen hat. Die simple Geschichte entwickelt sich zu einem rasanten grafischen Experiment. Vier Menschen treffen sich an einer Kreuzung und streiten sich um den richtigen Weg. Plötzlich wechselt die Perspektive, beginnt ein Spiel mit Raum, Zeit und Dimensionen. Unten ist oben, klein ist groß, nah ist fern.

Völlig in eine eigene, geheimnisvolle Bilderwelt versunken ist der britische Film The Secret Joy of Falling Angels von Simon Pummel, der den Preis für den besten Experimentalfilm erhielt. Pummels Geschichte über eine Frau, die in einem Raum auf ein geflügeltes Wesen trifft, erinnert stark an die bizarren Produktionen der Brothers Quay. Die in England lebenden Zwillingsbrüder waren mit einem Workshop auf dem Stuttgarter Festival vertreten; ihnen wurde auch eine Retrospektive gewidmet. Die Werke der Brothers Quay sind die konsequentesten, die es unter den Animationsfilmen gibt. Mit Schweinchen Dick sind die Figuren, die in den Filmen auftauchen, nur noch entfernt verwandt. Die Brothers Quay bevorzugen Puppentrickanimationen. Hinter jedem Bild, das sie inszeniert haben, steckt noch ein anderes, das kurz darauf zum Vorschein kommt. Der Zuschauer wird in diese Welt geradezu entführt. So erzeugen die Brothers Quay beim Publikum eine beunruhigende Intensität. Es ist schwer, nach dem Betrachten ihrer Filme den Bezug zu den vertrauten Bildern unserer Umgebung wiederzufinden.

Der Schwerpunkt des Stuttgarter Festivals lag in diesem Jahr bei der Präsentation von Trickfilmen aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch bei den aktuelleren Produktionen dominiert noch eine traditionelle Erzählweise — es werden Geschichten erzählt, die Bilder sind Mittel zum Zweck und werden nicht ins Symbolhafte überhöht.

Interessant waren die Filme, die etwas ahnen ließen vom fürchterlichen Witz in der Geschichte der Sowjetunion. Das leider ohne Preis gebliebene Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, nacherzählt vom Moskauer Puppentrickanimateur Garry Bardin, geriet zu einer lustigen Parabel auf den Stalinismus. Der Wolf will Rotkäppchen daran hindern, seine Großmutter in Paris zu besuchen. Er läßt sich von einem Arzt ein neues scharfes Gebiß einsetzen und verschlingt den Dentisten auf der Stelle. Während er Rotkäppchen verfolgt, frißt er noch die sieben Zwerge und die drei kleinen Schweinchen — zu guter Letzt platzt er aber aus allen Nähten, weil die Opfer sich der Verdauung fabelgemäß widersetzt haben. Das letzte Bild zeigt die Ex-Opfer des Wolfs auf einer Friedensdemonstration, auf der Peace-Zeichen und Anti-Wolf- Transparente mitgeführt werden.

Fast 1.000 Filme wurden in Stuttgart gezeigt — 950 von ihnen wird man in Deutschland leider nie wieder sehen. Seit im Kino die Vorfilme abgeschafft wurden, liegt die Verantwortung für den Trickfilm beim Fernsehen. Doch auch dort gibt es wenige Sendeplätze. Trickfilm gilt auch heute noch, völlig zu Unrecht, als Unterhaltung für Kinder. Die Enkel von Schweinchen Dick allerdings — das wurde in Stuttgart einmal mehr deutlich — sind auf ihren Opa zwar stolz, sie führen aber ein völlig anderes Leben.

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