Soziale Gerangelen

■ Jiddischer Sozialismus als Filmthema bei den »Jüdischen Lebenswelten«

Noch bis zum 22. April zeigt das Arsenal im Kinosaal des Martin-Gropius-Baus von Mittwoch bis Sonntag um 17 und 20 Uhr jüdische Filme aus verschiedenen Ländern. Ein Teil der Filme wird im Arsenal wiederholt. Jeden Mittwoch stellen wir eine Auswahl vor.

In a welt fun merkantilistische business macher, fun allerlei moderne meschugassen darf und muß anhalten die ojsgehaltenheit fun der sozialistische visje... Di geschichte fun di menschheit is die geschichte fun soziale gerangelen, sint dem menschlichen beginnen bis hajntzutug.«

Agitation auf jiddisch klingt — vielleicht speziell für unsere Ohren— immer ein wenig augenzwinkernd, da scheint ein Menschenbild durch, das vom strotzenden Sozialistischen Realismus ebenso weit entfernt ist wie von nervenzermürbendem Dogmatismus. Ein Hauptthema des Programms dieser Woche ist die zunächst überraschende Verbindung von osteuropäischem Chassidismus, also religiöser Orthodoxie, und jüdischem Sozialismus. Beide entwickelten sich zwar in geographischer Nähe zueinander, schienen aber inhaltlich doch sehr fern zu sein.

Joseph Seidens letzter Film God, Man and Devil (USA, 1949), einer der beiden letzten jiddischen Talkies überhaupt, liegt genau an der Stelle, wo die beiden Strömungen zusammenfließen. Er verbindet die Geschichte des vom Teufel verführten Faust mit der von Hiob, der durch leiden in seinem Glauben geprüft wird. Im ersten Bild steht der Teufel vor Gott, der natürlich nur als Stimme gegenwärtig ist, und behauptet, er könne selbst den braven Thoraschreiber Herschel Dubrovner von seinem geraden Weg abbringen, wenn er ihm Geld anböte. Gott will's nicht glauben, und so geht der Teufel an sein verderbliches Werk. Immer und immer wieder verwendet Seiden das traditionelle Tableau vom zweifelnden Menschen, den der Teufel mit dreieckigem, schwarz glänzendem Haaransatz und funklenden Augen wie eine Schlange umschmeichelt, bis Herschele schließlich die Augen nicht mehr zum Himmel, sondern auf den Tisch wendet, wo die blitzenden Goldstücke liegen. Er verstößt seine treue, aber gebärunfähige Frau und heiratet seine Nichte. er verstößt seinen alten Vater, weil der ihm mit seinen beschwipsten Scherzen auf die Nerven geht, und eröffnet — die Profanisierung des ihm ehemals Heiligen auf die Spitze treibend — eine Fabrik für Gebetsschals, in der er seine eigene Familie so lange ausbeutet, bis ein Unglück geschieht. Die spezifische Verbindung, die dieser Film, gedreht nach dem Krieg und der weitgehenden Assimilation der Juden in Amerika, zwischen Sozialismus und Chassidismus zieht, ist die der Solidarität innerhalb der Mischpoke: Eine Gesellschaft, die sich einen lallenden Greis nicht mehr leisten kann, ist genauso verdammenswert, wie ein Sohn, der seinen Vater nicht achtet (Mittwoch, 20 Uhr).

Demselben Thema widmen sich auch die beiden Dokumentarfilme der Woche: The Forward: From Immigrants to Americans (1988) erzählt die spannende Geschichte der größten jiddisch-sozialistischen Tageszeitung Amerikas (gegründet 1897 von Immigranten), deren erstes Ziel es war, den greenhorns, den aus Rußland und Osteuropa nachströmenden Brüdern und Schwestern, die möglichst schnelle Assimilation zu erleichtern. Die Tips reichen von »Wie man ein Taschentuch benutzt« über »Wie man sich benimmt, wenn jemand einen anpöbelt auf der engen Second Avenue« (man sagt höflich: »Excuse me«) bis hin zu Streikaufrufen, denen halb New York folgte. Zusammen mit den Fotografien von Juden aus aller Welt, speziell bei der Arbeit, erzeugt die Zeitung ein Klima von Familiarität und Würde des arbeitenden Menschen. Mit den Aufnahmen aus der Druckerei, dem Büro heute, den Wochenschauen aus dem Krieg und den Filmausschnitten von 1909 (!) ist dies einer der brillantesten Dokumentarfilme der Reihe.

Free Voice of Labor — The Jewish Anarchists ist eine lebendige Montage von Interviews und Picknicks im Park mit alten und jungen jiddisch sprechenden Anarchisten. Einige waren schon Teil der Bewegung, als das noch höchst gefährlich war: in den Zeiten der Red Scare nach dem Eintritt Amerikas in den Krieg gegen Deutschland 1917. Damals wurde jedes Rot mit paranoider Gewalt aus der Öffentlichkeit verbannt.

Man sieht Emma Goldman aus einem Wagen in die Menge rufen, man sieht die Tanz-Benefits im Tempel auf der 14. Straße, wo die Massen freitagabends selbst nach einem Zwölf-Stunden-Tag noch gespannt ihren Rednern lauschten. Die Aktivisten, heute zum Teil über 90, erklären die Verve der Bewegung mit dem Haß auf und der Enttäuschung über ein Amerika, das ausbeutet, schlecht wohnen läßt und in den Krieg ziehen will. Trotzdem seien sie alle Gentle people gewesen. Man sieht's (Sonntag, 17 Uhr). Mariam Niroumand