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Versuche einer Ortsbestimmung

■ Ein Portrait des jüdischen Schritstellers Gerson Stern

Es gehört zu den Absurditäten faschistischer Kulturpolitik, daß unter dem windigen Deckmantel kultureller Toleranz über einige Jahre auch jüdische Kunst und Kultur geduldet wurden. Nach einem Erlaß vom 30.3. 1937 mußten sich jüdische Verleger und Buchhändler ausschließlich auf jüdisches Schrifttum und jüdische Abnehmerkreise beschränken. Die Zahl jüdischer Buchhandlungen stieg kurzzeitig. 1937 waren in Berlin zwanzig jüdische Sortimente konzessioniert; ehemals sollten nur zwei bis drei zugelassen werden. Siebenundzwanzig jüdische Verlage gab es zu dieser Zeit in Berlin, die jede Publikation dem Reichskulturverwalter Hinkel zur Genehmigung vorlegen mußten. Der Verfasser mußte Jude sein, und die Käufer mußten sich ebenfalls als Juden ausweisen. Natürlich wurde »verbotene und unerwünschte Literatur«, etwa die Werke Sigmund Freuds, trotzdem nicht genehmigt.

Im Jahre 1934 erschien im Berliner Erich Reiss Verlag der Roman Weg ohne Ende von Gerson Stern. Der Roman wurde unerwartet zum Bestseller beim jüdischen Publikum; zwischen 1934 und 1938 erlebte das Buch zehn (!) Auflagen. Wer war dieser Stern, und was war an diesem Buch?

Stern wird am 7. Juli 1874 in Holzminden geboren. Nach einer öden Gymnasialzeit ist er Teilhaber einer kleinen Fabrik und läßt sich als Kaufmann am Rhein nieder. Der schnöde Brotberuf scheint dem musischen Stern aber nicht zu genügen: 1915 veröffentlicht er einen Gedichtband Sinfonie, 1923 das Drama Ich im Lehnstuhl. Sein Erfolg als Bestsellerautor gründet sich zu Lebzeiten jedoch auf die Romane Weg ohne Ende und Auf drei Dingen steht die Welt (1935). Am Freitag, dem 8.3. 1935, findet sich folgende Notiz in der 'Jüdischen Rundschau‘ Berlin: »Ein neuer Mann, ein mitreißendes Werk, sein Roman!« (Weg ohne Ende), ein »Außenseiter der Literatur, ein Mann, der spät erst, in unseren Tagen, aus unserer Situation heraus zum Schreiben kam«. Stern wird, entgegen den Gepflogenheiten der Zeitung, den Lesern ohne biografischen Abriß präsentiert, vielleicht auf seinen Wunsch hin. Zwischen 1933 und 1939 ist er mehrmals verhaftet worden.

Der Roman schildert das Leben in den Ghettos Deutschlands und Prags — zwischen 1722 und 1745. Er ist nicht einfach ein historischer Roman, vielmehr eine Parabel auf das Leiden der Juden durch die Geschichte hindurch, auf ihr Balancieren zwischen dem Zwang zur Anpassung an die jeweils über sie herschende Macht und dem Drang nach Bewahrung ihrer Identität als jüdisches Volk. Itzig, Abraham und Perez, die Hauptfiguren, sind Prototypen, die die — nach orthodoxer Ansicht — wertvollsten Eigenschaften ihres Stammes verkörpern: Kraft, Poesie, Schönheit des ganzheitlichen Menschen, Stolz und Empfindungstiefe.

Mit Itzigs Familie beginnt die Ansiedlung der Juden im Städtchen Wallhausen; eine kleine jüdische Gemeinde bildet sich neu. Perez hingegen lebt sich in die festgefügte Hierarchie des Prager Ghettos ein, dessen Kantor er wird. Den Schikanen der antisemitsch gesinnten Einheimischen ausgesetzt, wird das gefährdete Dasein der Juden »von innen heraus« erzählt. In Unheil kündenden Bildern — Gewittern, Schneestürmen, Wolken —, sind kommende Katastrophen bis in Gerson Sterns Gegenwart vorweggenommen. Schicksalsergebenheit und aufkeimender Widerstand bilden die Pole, zwischen denen eine Spannung im Ghetto aufzieht. In einer reichen, den Talmud zitierenden Sprache strebt der Roman der Austreibung der Juden aus dem Prager Ghetto unter der Kaiserin Maria Theresia zu. Im Schicksal Itzigs und seiner Frau Zartel, Perez' und Hendeles zeigt sich das Drama einer ungeschützten Existenz, die der Willkür der Herrschenden ausgeliefert ist: »Macht ist Recht!« wird zum Schlüsselsatz eines geschmähten und erniedrigten Volkes, des leben will, nichts weiter, ohne sich aufzugeben. Die »Hiob«- Familien zeigen auf einen Weg, der ein schlimmes Ende hatte.

Gerson Stern selbst sah sein Buch als »Roman ... Geschichte ... Aufruf« an. Auch seine zweite größere Arbeit, der Roman Auf drei Dingen steht die Welt, konnte 1935 noch im Berlin Hitlers erscheinen. Er wurde in Fortsetzungen in der 'Jüdischen Rundschau‘ abgedruckt, jeweils dienstags und freitags. Auf drei Dingen steht die Welt beschreibt eine deutsche jüdische Familie zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg wird, wie in Weg ohne Ende, Schlüssel zum gegenwärtigen Sein. Der Autor schreibt am 19.3. 1935 in der 'Jüdischen Rundschau‘: »Diese Erzählung ist Vorwort zu einem Geschehen.«

Der Textilhändler Arnold Bessinger, ein eher laxer Anhänger seines Glaubens, bringt es in Sterns Roman durch Vernunftheirat und glückliche Geschäfte zu einem großen Kaufhaus (Wer denkt nicht unwillkürlich an das Handelsunternehmen »Hermann Tietz«, das in den dreißiger Jahren »arisiert« wurde.) Bessinger stellt das Musterbeispiel des assimilierten Juden dar, dessen Geschäftssinn die jüdische Tradition hinter sich läßt. Damit verliert er aber auch Wärme und Menschlichkeit, seine rechtgläubigen Wurzeln. Der Aufschwung, das expandierende Geschäft, die Heirat und die Geburt der Kinder gehen mit innerer Leere einher. Die Söhne Arnolds übernehmen zwar das Werk des Vaters in der Abfolge der Geschlechter, aber wirkliche geschichtliche Kontinuität stellt sich nicht her, weil für den Autor und seine Figuren die weltanschaulichen Fundamente zerfallen.

Hedda, Arnolds Tochter, ist in der Schule mit Rassenhetze konfrontiert und lernt im Haus der Familie Katz zum ersten Mal religöses jüdisches Leben kennen. Sie vollzieht anstelle der Eltern die Rückkehr zum auserwählten Volk, denn als assimilierte Jüdin wird sie nie zu den »wahren Deutschen« gehören, aber auch nie zur Gemeinde. Heimatlosigkeit ohne traditionelle Wurzeln beziehungsweise Heimat »in Volk und Glauben« sind denn auch Gegenstand der Gespräche, die im Roman über Zugehörigkeit geführt werden.

So erscheint der Roman, der nie als Buch verlegt wurde, als Versuch einer Ortsbestimmung, Abgrenzung und Hoffnung in der aufgezwungenen Isolation von 1935. Die »drei Dinge«, die der Romantitel anspricht, sind Lehre (Hingabe an Erkenntnis), Dienst (Hingabe an den Schöpfer) und Wohltun (Hingabe an den Menschen ohne Wahl), und sie verknüpfen sich mit dem Symbol der Erneuerung »Palästina«, Heddas erklärtem Ziel.

Auf drei Dingen steht die Welt zeigt Sterns lebendige, präzise Sprache, wirkt aber hastig konstruiert und lehrhaft. Heute stellt sich Sterns Erneuerungs- und Erlösungserwartung als tragisch hilflose Projektion dar.

1939 folgt Gerson Stern seiner Frau Erna Schwartz in die Emigration nach Palästina. In Tel Aviv veröffentlicht er 1947 auf hebräisch einen letzten Roman »Die Waage der Welt«, der bisher nicht übersetzt ist; außerdem liefert er Beiträge für israelische und ausländische Zeitschriften. 1956 stirbt er in Jerusalem. Es ist eine weitere Absurdität der Geschichte, daß sein Sohn Joäl in einem arabisch-jüdischen Konflikt getötet wurde. Anke Westphal

Keines der Bücher von Gerson Stern ist z.Z. im Buchhandel erhältlich.

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