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„Erinnern für die Zukunft“ jetzt auch in Minsk

■ Hunderte kamen zur Gedenkfeier zum ehemaligen Minsker Ghetto / Angst vor zunehmendem Antisemitismus steigt

570 Juden aus Bremen waren im November 1941 ins Minsker Ghetto zwangsverschleppt worden. Niemand hatte in Bremen ihre Deportation zu verhindern versucht. 50 Jahre nach den Pogromen wurden zwei Gedenktafeln produziert. Ihr Motto: „Erinnern für die Zukunft“. (vgl. taz v. 9.10.1991) Seit November hängt eine der beiden Tafeln an einer Seitenwand des Bremer Bahnhofs. Hier hatte die Verschleppung ihren Ausgang genommen. Die zweite Tafel, von Bremern im Oktober nach Minsk gebracht, sollte dort, am Bestimmungsort der Verschleppung, ihren Platz finden.

Wann — das wußten am Ende letzten Jahres weder der Stadtrat in Minsk noch die Jüdische Gemeinde. Die hatte gerade erst begonnen, sich zaghaft zu ihrem Judentum zu bekennen. Lediglich 50 Mitglieder zählte die Jüdische Gemeinde im November 1991. Um so erstaunlicher, daß jetzt Hunderte an der Gedenkfeier teilnahmen, mit der die Gedenktafel nun auch in Minsk ihren Platz erhielt. Am 1. März 1992 wurde sie an der Straßenecke Republikstraße/Suchajastraße, einer Grenzstraße des ehemaligen Ghettobezirks, befestigt.

Die Gedenkfeier versammelte die Überlebenden des Minsker Ghettos, trauernde Verwandte und ehemalige Zwangsarbeiter, die noch heute mahnend ihre Papiere bei sich tragen. An diesem Tag standen rund 300 Menschen um den kleinen Obelisk, dem bisher einzigen Mahnmal der jüdischen Opfer, am Rande der Neubausiedlung, unter deren Hochhäusern das Minsker Ghetto verschwunden ist. Mindestens 100.000 Menschen waren hier zwischen dem 15.7.1941 und 21.10.1943 hinter den Stacheldraht gejagt worden.

Litauische Juden mit dem Rabbiner, Veteranenverbände, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden Leonid Levin (der auch Mitglied des Stadtrates ist) und Zeitzeugen erinnerten an die unfaßbare Zahl von Toten, an die Mordaktionen durch die SS-Sonderkommandos und die Opfer unter der Gewalt des 2. Weltkrieges.

Gemeinsam besuchten die Trauergäste den ehemaligen Ghettobezirk. Die letzten noch stehenden sieben Häuser riefen bei den meisten anwesenden nicht zu verschmerzende Erinnerungen wach. „Dort begann das Sonderghetto für die deutschen Juden“, weist einer die abschüssige Straße hinunter.

Eine Fahrt führte nach Blagowschtschina, 12 Kilometer südöstlich von Minsk. Das abgelegene Kiefernwäldchen diente den SS-Sonderkommandos als Massenerschießungs-und Verbrennungsplatz. Hier wurden russische Kriegsgefangene gezwungen, die Gaswagen nach dem Todeskampf von Hautresten, Blut und Kot zu säubern.

Im „Haus der Literatur“ wurden während der vier Gedenktage die Erzählungen von Zeitzeugen per Tonband protokolliert. Tiefe Erschütterung machte sich dabei breit; brach sich einen Ausweg in einem kurzen, heftigen Streit über Antijudaismus, dem jüdische Partisanen in den russischen Partisanengruppen ausgesetzt waren. Dies war und blieb ein wunder Punkt.

Die Wunden durch den Genozid Nazideutschlands sitzen tief in der Judenheit. Sie werden aber auch lebendiggehalten durch die Repressalien im Alltag der ehemaligen UdSSR: Durch die limitierte Zulassung zu Studium und Beruf, durch die Diffamierung bei der Wohnraumsuche für die, die in ihren Ausweispapieren ein „J“ tragen.

Das gemeinsame Auftreten während der Veranstaltungen wurde aber auch genutzt, um auf den staatlich geduldeten Antisemitismus aufmerksam zu machen, der die jüdische Bevölkerung zunehmend bedroht. Jakov Basin, Mitglied im Präsidium einer Konföderation jüdischer Gemeinden und Organisationen; „Kein Wurstgrund (die drastische Verschlechterung der Versorgungslage) läßt Juden Ausreiseanträge stellen. Bei allen Schwierigkeiten, wir wünschen, in unseren Heimatländern zu leben. Aber wir Juden haben Angst. Wir werden wieder die ersten Opfer sein, wenn Sündenböcke gebraucht werden, die Schwierigkeiten bei der Neugestaltung unserer Länder zu erklären.“

Schon werden Gorbatschow und Jelzin „Juden“ genannt. Ein

Trauerfeier am Rande des ehemaligen GhettosFotos: I.Scheffel

Vehikel, um den Ängsten der Menschen während schwierigen Zeit der Umorientierung schuldzuweisende Erklärungsmuster anzubieten. Eine Zielscheibe für sich anbahnende und von dogmatischen politischen Kräften gewünschte Gewaltentladung. „Schon gibt es in vereinzelten Presseartikeln Aufrufe, die Juden zu bekämpfen,“ berichtet Jakov Basin. Beunruhigt fragen sich die Juden, ob ihre „Angst nur Ausdruck der eigenen Deformation“ durch ihre historischen Erfahrungen sei. „Schätzen wir die Gefahr zu hoch ein? Oder wird es wieder zu spät sein, wenn die erste Synagoge brennt, der erste Jude erschlagen ist?“

Die Gedenktage haben überraschenderweise auch die Medien registriert: Das Moskauer und das belorussische Fernsehen

Menschen

rund um

Obelisk

übertrugen Ausschnitte der viertägigen Veranstaltungsreihe. Da sich seit dem Zerfall der UDSSR der Antisemitismus in den Mittel- und Osteuropäischen Republiken immer schärfer artikuliert, ist dies eine wichtige und notwendige Öffentlichkeit.

Leonid Levin, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden, hat rechtzeitig zu den Gedenktagen die erste Ausgabe einer Zeitung der Jüdischen Gemeinde herausgebracht. Ein Forum für die jüdische Bevölkerung, um sich an dem schwierigen Prozeß von Demokratisierung und wirtschaftlicher Umgestaltung Weißrußlands öffentlich und selbstbewußt zu beteiligen.

Das Staatsarchiv in Bremen bereitet eine Ausstellung zu den Gedenkfeiern rund um das Minsker Ghetto vor. Ingrid Scheffel

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