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Lavendel und Forint

■ Phantasie, Gier und Leidenschaft - das lange gezügelte Budapest wird im rasanten Tempo der neuen Zeit umgekrempelt. Frank Nordhausen hat sich an der Seite der umbruchgewöhnten Marie ein Bild von der ungarischen...

Phantasie, Gier und Leidenschaft — das lange gezügelte Budapest wird im rasanten Tempo der neuen Zeit umgekrempelt.

FRANK NORDHAUSEN hat sich an der Seite der umbruchgewöhnten Márie ein Bild von der ungarischen Hauptstadt gemacht.

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urz hinter Prag verrammelt mein Reisegefährte aus Ungarn das Abteil mit einer Leiter. Erschrocken höre ich: „Jetzt wird es gefährlich. Zweimal schon haben sie mich bis aufs Hemd beklaut, mit Messern bedroht — ungarische Banditen. Also, es ist besser, du schläfst nicht.“ Sándor, der in Berlin Betriebswirtschaft studiert und „schnell reich werden“ möchte, hält die Erklärung schon parat. „Der soziale Neid in Ungarn ist riesig“, sagt er. Einige wenige würden immer reicher, während breitere Schichten verarmten. „Und die Folge? Kriminelle überall. Die jungen Leute kümmern sich nicht mehr um die Alten.“

In Budapest ist Frühling. Nach dem dritten Klingeln schlurft Mária heran, schließt mich in die Arme. „So jung guckst du“, sagt sie in ihrem antiquierten k.u.k.-Deutsch, „und ich bin so müde.“ Die hochgewachsene, feingliedrige Frau trägt ein langes Nachthemd, darüber eine alte Strickjacke in scheußlichen Farben. Das weiße Haar hat sie zu einem ziemlich wirren Knoten gebunden. „Das Leben ist schwer geworden“, murmelt sie, „und die Freunde sterben weg. Keiner ist geblieben. Diese Stadt frißt die Alten.“

Die 68jährige lebt mit ihrer hüftleidenden Tochter, der Enkelin und deren Freundin Irdiko in ihrer Zweieinhalbzimmer-Wohnung aus der Gründerzeit, im tosenden Zentrum der Stadt. Ein Schrank trennt ihr Bett vom Raum ab. An den Wänden hängen alte Fotografien, „wilde“ Bilder ihres Sohnes, in den Regalen stehen ein paar Bücher, vor allem aber Keramik. Ihre Keramik. Sitzende und kniende Figuren aus Terrakotta, Masken, Köpfe wie von den Osterinseln. Mária Kömüves, die Künstlerin, ist in Budapest geboren. Seit mehr als vier Jahrzehnten lebt sie nun schon in der gleichen Wohnung.

Ich hatte bei ihr ein Erkerzimmer — vor zwölf Jahren. Unversehens fand ich mich in der Budapester Bohème wieder. Unter Filmemachern, Cartoonisten, Schriftstellern, staatlich oder halbstaatlich entlohnt, mit Träumen vom Westen, von Ruhm und Dollar. Kein Geld in der Tasche, aber immer einen Rotwein im Rucksack. Freunde von Mária und ihrem Schwiegersohn. Schon damals verkaufte Mária keine Kermaik mehr. Sie vermietete ihre Zimmer, schlief selbst hinter einem Vorhang in der Küche. Sie sah dem Leben zu. Sie schien keine Bedürfnisse zu haben und auch kein Geld. Aber es ging.

Heute droht sie der Strudel der neuen Zeit in den Abgrund zu reißen. Wie zwei Millionen alte Menschen in Ungarn. Gebeugt ziehen sie durch die Straßen. Es sind Vergessene wie aus den Nachkriegsfilmen, gehüllt in die unförmigen Mäntel der sechziger Jahre. Plastetasche in der einen, Stock in der anderen Hand. Zwei Alte wühlen in Mülltonnen herum. Neben Dutzenden von Obdachlosen, Bettlern, Zeitungsverkäufern. Aus der Zeit gefallen, ohne Perspektive. Verlierer.

Ihr Rhythmus scheint in dem Maße langsamer zu werden, wie die anderen ihn beschleunigen. Tempo, Tempo! Verwirrend die Anzahl neuer Restaurants, kleiner und kleinster Läden, das Stakkato der Reklameschilder und Neonschriften. Supermärkte, Autosalons, Haute Couture. Und das internationale Kapital zieht Paläste aus Marmor, Sandstein und Glas empor. Ich atme Farbe, Schweiß. Nachts leuchten die Ikonen der „freien Welt“ über der Stadt: Porsche, Sony, Coca-Cola.

Ein Ventil wurde geöffnet. Unvermittelt brach das Chaos ein. Phantasie, Gier und Leidenschaft, die zu lange gezügelte Metropole zeigt in einem explosiven Akt ihr wahres Gesicht. Die jungen Männer — weißes Hemd, dunkler Anzug und Fliege — lernen schnell. Stasi, Eigentumsverhältnisse, Depression — solche „ostdeutschen“ Befindlichkeiten sind hier Makulatur, Lichtjahre entfernt. Was zählt, sind Aktien, Bilanzen, Gewinn. Da gibt es Fünfundzwanzigjährige im Export-Import- Geschäft mit Appartments für 1.500Mark, Kokain in der Brieftasche. Sie stehen in den Autosalons und schreiben den Scheck auf der Kühlerhaube aus. 90.000Mark kostet ein Audi100. Wir wollen das Leben, und wir wollen es jetzt. Wir, die Gewinner.

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árias Bewegungen sind indes fast zum Stillstand gekommen. Die Welt, die sich öffnet, schließt sich vor ihr. Sie kann kaum noch laufen, Geld für einen Café-Besuch hat sie nicht. „Ich kann nur in ganz billige Restaurants gehen, Self-Service, du weißt, ohne Kellner.“ Sie lebt von der Miniatur-Sozialhilfe, die der ungarische Staat ihr gewährt. 11.000Forint haben sie und die kranke Tochter, zusammen knapp 250Mark; das reicht gerade für Wohnung, Strom und Gas. Und immer die Angst vor der Preiserhöhung. „Viele Leute können nicht mehr zahlen, dann werden ihnen Licht und Gas gesperrt.“ In den Läden galoppiert die Inflation. Ein ordentliches Paar Schuhe kostet so viel wie die ganze Sozialhilfe. Vor zwei Jahren hat sie in einem Second-Hand- Laden das letzte Mal ein Kleidungsstück erstanden. Wünscht sie sich deshalb die alte Zeit zurück? „Nein. Es ist besser, daß der Kommunismus fertig ist. Wir sind ganz frei. Kann man Geschäfte machen und frei sprechen. Aber ganz frei gehen jetzt auch die Preise.“

Immerhin, Essen bekommt sie im Idösek Klubja, dem Senioren-Klub. „Dort bin ich die ärmste“, sagt die alte Frau. Aber sie ist auf eine altmodische Art stolz auf ihren Klub: „So eine schöne Einrichtung, und die alten Leute, so elegant. Sie haben alle gearbeitet in ihrem Leben, und nun sind sie trotzdem arm.“ Wir gehen hin. Ein Raunen geht durch den Saal, als wir eintreten. Fünfzig ergraute Damen und vier alte Herren wenden mir ihre Gesichter zu. Sie sitzen an kleinen Tischen, stricken oder trinken Kaffee, einige löffeln ihre Suppe. Teppichboden, dunkle Möbel, Trokkenblumen und der Duft von Lavendel. Keine Suppenküche — ein Salon. Die Armut hat Stil im fünften Bezirk.

Der Klub wurde noch von der alten Regierung eingerichtet. Dreihundert alte Menschen werden hier betreut. Es gibt Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. Die Leute können sich dort den Tag über aufhalten. Man reicht mich herum; viele sprechen hier Deutsch, ein Vermächtnis der Vorkriegszeit. So auch Csilla Szelestéwyi, 74. Sie trägt ein dezentes hellgrünes Kostüm. „Ich bin schon neun Jahre hier“, sagt sie, „ich stehe ganz allein, habe keine Angehörigen mehr. Nein, das Leben im Kommunismus war nicht gut für uns. Wie schön es doch vor dem Kriege war...“ Niemand widerspricht. Herr Gábor Csiszar, ein stattlicher Mann, sagt: „Raten Sie, wie alt ich bin. 86 Jahre, und früher Oberstleutnant beim ungarischen Generalstab. Dann in Sibirien interniert, dann Straßenfeger. Wir sind betrogen worden. Vor dem Krieg war das Leben einfach viel besser.“

Ein Glück, daß der Seniorenklub bisher von Sparmaßnahmen verschont geblieben ist. „Das frühere soziale System bricht zusammen, und der Staat versucht, die Leute auf dem jetzigen Niveau zu halten, so daß sie nicht völlig absacken“, erläutert die Klubleiterin Josefné Kovács. Einmal die Woche komme der Arzt in den Klub, die Friseuse, die Maniküre. Da Mária zu bedürftig ist, muß sie nichts dafür bezahlen. „Von den 300 Leuten sind etwa 50 in diesem Status“, sagt die Leiterin.

Wenn Mária auf ihr Leben zurückblickt, sieht sie ständige Bewegung, Sprünge, das mächtige Rad der Geschichte. „Es ist immer etwas passiert. Langweilig war es nie“, sagt sie. „Mein Bruder Lászlo hat im Krieg viele Juden gerettet, hat ihnen gefälschte Christpapiere gemacht. Das war 1944, sehr gefährlich. Aber wir hatten Glück.“ Nach dem Aufstand von 1956 verarmte die Familie. Der Vater, Bildhauer, trat aus der Partei aus, der Bruder Lászlo ging ins Gefängnis. Er hatte Flugblätter in russischer Sprache hergestellt. „Und wieder hatte er Glück: Nur drei Monate war er im Kerker. Aber anschließend durfte er nicht mehr als Russischlehrer arbeiten.“

Heute ist Katalin Márias Bindeglied zur Welt; die Enkelin ist der ganze Stolz der Großmutter, und auch ihre ganze Sorge. „Sie erzählt wenig. Trotzdem ist es gut für mich, daß ich mit meiner Familie zusammenlebe. So gucke ich, was die Jugend macht.“ Traurig macht sie nur, daß Katalin sie kaum unterstützt: „4.000Forint gibt sie, dabei verdient sie so schönes Geld.“ Die sitzt derweil im Nebenzimmer. Jim Morrison dröhnt aus den Lautsprechern. Sie raucht einen Joint mit zwei schicken Jungs. Dann flattert sie wie eine Diva durchs Zimmer und ist vor allem eines — schön. „Sie lebt in den Tag hinein“, kritisiert Mária, „sie sollte einen Italiener heiraten, was kann sie sonst machen? Als Model kann sie nicht mehr lange arbeiten, denn sie hat jetzt schon auf den Hüften zuviel Fleisch.“

Vor drei Jahren hatte ein italienischer Fotograf die Fünfzehnjährige entdeckt. Es folgten Aufträge für Modezeitschriften, zuletzt sogar für den 'Stern‘. Mária erzählt sie ganz naiv, die Erfolge der schwarzen Kati im fernen Italien: „Bald geht meine Enkelin wieder nach Rom. Ein gutes Leben hat sie dort, die italienischen Leute sind so elegant und so lustig. Dort wohnt sie bei Cicciolina, in einer Villa, schön mit Swimmingpool.“ Was sie dort macht? „Nun, Fotos, sogar getanzt hat sie. Cicciolina ist eine gute Frau.“ Mehr weiß sie nicht über Ilona Staller, die deutsch-ungarische Porno-Produzentin. Will es auch nicht wissen.

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ieviele Katalinas gibt es in Budapest? Sex-Shops, Massagesalons und „Topless-Bars“, keine Diskothek ohne Striptease — das „Bangkok des Ostens“. Ein Bild wie ein Schlaglicht: In der Disko „Rendevu“ feuern edel gekleidete Yuppies die Stripperin an: „Zeig, was du hast, ja, ja, bravo.“ Sie klatschen und rufen, ekstatisch und wild. In ihren Augen der Blick des Jägers, der Rausch der Macht: über das Geld, über die Frauen. In der schicken Váci Utca tragen zur gleichen Zeit traurige alte Männer Werbetafeln für ein Bordell herum: „Hier Sie sind der Gleiche unter Gleichen, der Erste unter Ersten.“

Mária sitzt auf ihrem Bett, inmitten der chaotischen Wohnung voller Geschichten und Erinnerungen. Es ist Dämmerung, und wir hängen unseren Gedanken nach. Der Wecker tickt. Manchmal huscht ein Lächeln über die zerfurchten Gesichtszüge. Dann sagt sie: „Mein Leben war schwer, aber schön.“ Leise fügt sie hinzu: „Nur — wie kommen wir raus aus dem Dreck?“

Im Nebenhaus eröffnet gerade ein Geschäft für Designermode. Wie es blitzt und glänzt. Von drinnen fällt Licht auf die Straße. Im Scheinwerfer von Fernsehkameras prosten sich junge Menschen mit Champagner zu. Ganz ungezwungen schauen sie durch die Scheibe nach draußen.

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