: Freundlich und ohne Gepolter
■ Christa Wolf und Marianne Frisch lesen Geschichten und Gedichte der Amerikanerin Grace Paley
Die Autorin ist bei der Lesung im Plenarsaal der Akademie der Künste nicht anwesend. Auf der Rückseite ihres Reclam- Bändchens Die schwebende Wahrheit, das es vor der Tür zu kaufen gab, findet sich kein Porträt. Wie also haben wir uns Grace Paley vorzustellen, laut Pressemitteilung »eine der bedeutendsten und eigenwilligsten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur«?
Das Prädikat ist gewiß zu wuchtig. Nicht, daß die 70jährige New Yorkerin es nicht verdient hätte. Doch ihre Prosa kommt so freundlich und gänzlich ohne Gepolter daher, sie hätte etwas anderes verdient als die Standardformulierungen der PR-Abteilung.
Christa Wolf stellt die Autorin mit deren eigenen Worten vor: »Ein bißchen hinterhältig«, urteilt Paley über Paley. Sie habe angefangen zu schreiben, weil sie es ihren (nicht so wortgewandten) Freundinnen schuldig gewesen sei. Paleys Geschichten speisen sich aus ihrem direkten persönlichen Umfeld. Sie handeln von den Freundinnen, den Kindern, den Männersorgen. Eine schreibende Hausfrau also? Dagegen sprechen ihr Bewußtsein und ihre Souveränität gegenüber der Fiktion. In der Geschichte Unterredung mit meinem Vater erzählt die Autorin ihrem kranken Vater eine Geschichte. Der moniert, sie sei nicht in der Lage, eine einfache Story à la Tschechow oder Turgenjew zu entwerfen. »Die Handlung, also die schnurgerade Verbindung zwischen zwei Punkten, war mir immer ein Graus«, hält die Tochter dagegen. »Jede Person, ob lebendig oder erfunden, hat ein Anrecht auf ein offenes Schicksal.«
Christa Wolf liest diese Passage genauso beiläufig wie alle anderen. Sie findet den richtigen Ton, um die Geschichten der Amerikanerin tatsächlich zu erzählen. Die Autorin Paley steht ihr mit ihrer Zurückhaltung gegenüber Urteilen über andere Menschen sicherlich nahe. Für Christa Wolf ist der Leseabend auch eine Möglichkeit, ihre eigene Vorstellungswelt wieder ins Blickfeld zu rücken, vorsichtig an ihre eigene Literatur zu erinnern.
Will man Paley mit einer anderen AutorIn vergleichen, bietet sich die frühe Prosa von Margaret Atwood an. Der Ton in Die eßbare Frau ist ganz ähnlich: trocken-humorig, ohne jede Spur von Selbstmitleid und mit dem Selbstbewußtsein einer Frau, die an ein (von Männern) vorbestimmtes Schicksal nicht glaubt. In der Geschichte Adieu und viel Glück sagt das Mädchen zur (weiblichen) Hauptfigur: »Wenn ich nicht am Fenster sitzen kann, kann ich nicht sitzen.« Die Antwort: »Dann geh und steh an der Straßenecke«.
Paleys Gedichte, die Marianne Frisch vortrug, begeben sich auf die Meta-Ebene, die in der Prosa nur suggeriert wird. Hier zeigt sich, wiederum ganz unspektakulär, die Todesangst als weitere Quelle des Schreibens. Das läßt sich nicht nur in der Geschichte Leben nachlesen, sondern in jeder Zeile, in der sie Sprachlosigkeit, soziale Gewalt oder Umweltzerstörung thematisiert.
Also eine schreibende, eine »bewältigende« Hausfrau? Dagegen steht, daß ein autobiographisch angehauchtes Ich zwar die Säule ihres Werks, nicht aber Ziel ihrer Auseinandersetzung ist. Wichtig sind die anderen Elemente in ihrer Fiktion, genauer gesagt, der Ursprung des Wandels, den Menschen, Pflanzen oder Gegenstände im Laufe der Zeit vollziehen. Paley versteht es, gegen den Strom zu denken, um an die Quellen einer Entwicklung zu gelangen. Sie tut dies nicht im Groben, sondern wendet sich Details zu, die sie nicht symbolhaft erhöht. Es reicht, an dieser Person und jenem Ding etwas Liebenswertes, Originäres, Aufzubewahrendes gefunden zu haben. Dann wird die Sprache sehr ruhig, und die Autorin kann wohl von der Schreibmaschine aufstehen. Ein Tag ist gerettet. Henrike Thomsen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen