Kinderhüten beim Schlangestehen

Russische Mütter haben beim Thema Arbeit keine Wahl, aber mit Kleinkindern haben sie auf der Stellensuche wenig Chancen/ Kindergärten werden unbezahlbar/ Arbeitslose Babuschkas machen staatlichen Erzieherinnen zunehmend Konkurrenz  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Oft habe ich beim Spazierengehen den Kindergarten in der Nachbarschaft bewundert. Er ist zu schön, um wahr zu sein: Auf den Hügeln der Trabantenstadt Krylazkoje gelegen, Fensterbögen und Türen im maurischen Stil mit türkisblauen Mosaiken, die den Ausblick auf das hier romantisch bewaldete Moskwa- Flußtal bieten. Da gibt es sogar eine Schwimmhalle. Zur Eröffnung vor fünf Jahren kam Boris Jelzin persönlich, damals noch Moskaus Parteichef, und nach ihm kam — die Sintflut. Im letzten Sommer beschloß die neue Bezirksverwaltung eine Renovierung vor allem der sanitären Anlagen. Geld wurde zugeteilt, Arbeiter machten sich ans Werk — doch die Preise stiegen, und die unbezahlbar gewordenen Meister warfen ihre Werkzeuge hin. Heute pfeift nur noch der Wind durch die leeren Vorzeigehallen.

Dies ist nur einer von zahlreichen Kindergärten, die zur Zeit in Moskau geschlossen werden. Die Aufhebung der Preisbindung wie der gesamte Übergang zur Marktwirtschaft in Rußland trifft in erster Linie die schwangeren Frauen und Mütter. Und sie trifft es so hart, daß die Folgen kaum abzusehen sind. Schon heute hat die Lust zum Gebären so weit nachgelassen, daß die Sterblichkeitsrate die Geburtenrate übertrifft. Viele Krippen machen dicht wegen Mangels an Säuglingen.

Die Krankenhäuser arbeiten jetzt ebenfalls nach dem Rentabilitätsprinzip, ein vernünftiges Sozialversicherungssystem fehlt. Das Vergnügen einer Geburt kostet eine Frau nun etwa 3.000Rubel. Früher mußten die staatlichen Betriebe Müttern den Arbeitsplatz erhalten, die in den ersten drei Lebensjahren ihres Kleinkindes zu Hause bleiben wollten. Meine Freundin Ljudmila, eine Programmiererin, hatte sich für diese Lösung entschieden. Kürzlich flatterte ihr das Kündigungsschreiben ins Haus: Ihr Betrieb wird privatisiert.

Von den zehn Prozent Arbeitslosen, die man im nächsten Sommer in Rußland erwartet, werden 80Prozent Frauen sein. Gleich neben dem geschlossenen Kindergarten in meinem Stadtviertel hat eine in diesem Land bisher unbekannte Institution ihre Tore geöffnet: das Bezirksarbeitsamt. „Die Personalchefs versuchen gar nicht erst, irgendetwas zu beschönigen“, klagt die Leiterin, Lydija Michailowna. „Die Frauen, die wir zu Vorstellungsgesprächen schicken, lehnen sie unumwunden ab mit der Begründung: Vorhandensein eines Kleinkindes. Das kümmerliche Kindergeld müssen nämlich die Betriebe aufbringen und nicht der Staat.“

Nicht, daß die Mütter kleiner Kinder sich in Rußland nach Berufsarbeit drängten. Nur die wenigen Frauen mit schöpferischen Berufen wie Journalistinnen oder Schauspielerinnen fürchten einen Karriere- Bruch. Viele Frauen in diesem Land arbeiten noch in körperlich schweren Berufen: auf dem Bau oder im Übertage-Betrieb der Bergwerke. Und wo die Arbeit nicht den Körper ruiniert, da verschleißt sie im Vorzeichen der Wirtschaftskrise allenthalben die Nerven: Wegen Materialmangels kommt es überall zu Stockungen und Frustrationen — für die Gereiztheit der Bevölkerung dienen Verkäuferinnen und Angestellte als Blitzableiter.

Und noch ein Grund macht es den Frauen wünschenswert, zu Hause zu bleiben: Wer gerade nicht beruflich arbeitet, der steht Schlange — eine überlebenswichtige Tätigkeit. Anstehen läßt sich in den Augen der meisten Mütter jedoch geradezu ideal mit der Betreuung eines Kleinkindes verbinden.

„Ich bin lieber bettelarm, weiß aber, daß ich ein psychisch und physisch gesundes Kind aufziehe“, sagte mir Ljudmila, als sie sich für die drei Babyjahre entschied. Die meisten Familien — ganz zu schweigen von alleinstehenden Müttern — haben jedoch keine Wahl, für sie wäre es ein unerschwinglicher Luxus, zu Hause zu bleiben. Die staatliche Beihilfe für ein Kind im Vorschulalter beträgt zur Zeit durchschnittlich 205Rubel, für eine völlig alleinstehende Mutter ohne Einkommen 428Rubel. Wenn ein Kilo Fleisch 80Rubel kostet und ein halber Liter Milch in einem staatlichen Geschäft acht Rubel, läßt die schwierige Arithmetik des Überlebens wenig Spielraum. Frauen mit minderjährigen Kindern erhalten noch eine vierteljährliche Kompensationszahlung für Kleidungskäufe in Höhe von 103Rubeln pro Kind. Das reicht nicht einmal für ein Paar Sandälchen.

Demnächst tritt in Moskau eine Verordnung in Kraft, der zufolge die Eltern auch noch 20Prozent der Kosten für die Unterbringung eines Kindes im Kindergarten tragen sollen. Das sind 200Rubel im Monat. Eine Ärztin zum Beispiel, die im Durchschnitt 600Rubel verdient, muß da nach anderen Auswegen suchen. Falls sich die Möglichkeit bietet, liegt die Rückkehr zur „Babuschka“ nahe. Ohne die westlichen Vorbilder zu kennen, sind viele arbeitslose Frauen auf die Idee gekommen, sich als Tagesmutter zu etablieren. Den russischen Erzieherinnen weht durch die ungewohnte Konkurrenz der Wind ins Gesicht. Viele von ihnen tyrannisierten bisher Eltern und Kinder mit zahllosen Disziplinarvorschriften oder tauschten staatliche Wäsche oder Spielzeug gegen die eigenen alten Sachen aus. Jetzt müssen diese Gouvernanten um jedes Kind kämpfen.

„Erzieher aus Leidenschaft haben es heute leichter“, erzählt die Mitarbeiterin des Kindergartens Nr.922 in der Moskauer Altstadt. „Viele unsinnige Vorschriften sind weggefallen, und wir können endlich mit modernen, antiautoritären Methoden experimentieren. Andererseits herrschen jetzt krasse soziale Unterschiede zwischen den Kindern, die auch für uns oft schwer zu ertragen sind. Schon mit sechs Jahren muß der kleine Andrej verstehen, daß wir ihn aus dem Zimmer führen, wenn andere Kinder Englisch lernen oder sich mit dem Computer beschäftigen — weil seine Eltern die zusätzlichen Kursgebühren nicht aufbringen können. Kinder wie Andrej bilden die Hälfte unseres Kontingents — was soll aus ihnen werden?“