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Gefillte Film

■ Boris Lehman, belgischer Experimentalfilmer, zu Gast im Arsenal

Zu Rosch-ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, wird der Schofar geblasen; die Gerechten, die Bösen und die Durchschnittlichen werden in ein Buch eingeschrieben und Apfelstücken »auf ein süßes Jahr« in Honig getaucht. Kurz vor Sonnenuntergang des ersten Tages geht man dann ans Meer oder sonst ein fließendes Gewässer und leert seine Taschen, um sich seiner Sünden zu entledigen — ein Brauch, der möglicherweise erklärt, wie es zur Tirade von den Juden als »Brunnenvergifter« gekommen ist. In Boris Lehmans stillem Film Stumm wie ein Fisch (1987) sieht man einen Vater mit seinen Töchtern an einem belgischen Fluß stehen, dazu aus dem Off die Erläuterung: »Wir zeigen mit dieser Zeremonie, daß unser Leben ebenso prekär ist, wie das eines Fisches, der jederzeit im Netz hängenbleiben kann.«

Es geht also nicht um ethnographische Völkerverständigung in diesem Film, der eben jenem Fisch von seinem Weg aus dem Fluß ins Netz unter das Messer in die Münder folgt. Vielmehr wird der Film als Kunstwerk Teil des Schaffensprozesses, der im religiösen Ritual kristallisiert ist. Der Interpretation von Rabbi Eliser zufolge wurde die Welt an Rosch- ha-Schana aus dem Nichts erschaffen. Nach dieser einen Kreation war jede Hervorbringung immer mit Zerstörung von etwas bereits Dagewesenem verbunden — im Gegensatz zu Gott schaffen die Menschen nicht aus dem Nichts. Dieser Gedanke zieht sich bis in die Schriften Walter Benjamins: »Jeder Akt der Zivilisation ist zugleich ein Akt der Barbarei.« In Lehmans Film taucht er auf als das Nebeneinander blutigen Zerschneidens und Zerhackens mit dem liebevollen Anrichten einer Platte mit »gefillte Fisch«; der lachenden Familie mit Fernsehnachrichten von einem arabischen Attentat oder dem roten Wein, der sich auf das weiße Tischtuch ergießt. Das »Nichts«, dem dieser Film entwunden ist, ist der mit keinem Wort erwähnte Holocaust, und so ist die schönste und zugleich düsterste Sequenz des Films der Schnitt vom leergeräumten Tisch nach dem Mahl zum Bild einer nächtlichen Brücke über dem Fluß, durch die stampfend ein Zug rauscht.

Boris Lehman wurde 1944 als Sohn polnischer Juden im schweizerischen Exil in Lausanne geboren. Vierzig Jahre später fand er alte Fotos und Dokumente seiner Eltern. Das veranlaßte ihn, nach Lausanne zurückzukehren, um an dem Ort, an dem er »ebenso nicht hätte geboren werden können«, der Vergangenheit noch einmal Leben einzuhauchen. Diesen Prozeß kann man naturgemäß nicht »abfilmen«, und so bleibt der Film im Gestus des »à la Recherche«; Mosaiksteine werden nebeneinander gehalten, und das »Wie-es- wirklich-War« entsteht an den Reibeflächen. Lehman filmt Türschilder mit seinem Namen, stellt Szenen auf einem Boot nach, in denen ein kleiner Knirps im Matrosenanzug seiner Mutter beim Wasserskifahren auf dem strahlend blauen See zusieht, bis das Seil plötzlich reißt und sie verschwindet. Zeitungsausschnitte, eine Geburtsurkunde, eine Beschneidungszeremonie... »Ich suche Beweise für meine Existenz«, sagt die Stimme aus dem Off und meint damit nicht nur sich selbst.

An dieser Stelle offenbart sich der Kern des Lehmanschens Arbeitsprozesses. Mit der eleganten Leichtigkeit, dem Ernst und dem Witz dessen, der sich durchgeschlagen hat, stößt er filmisch zu Lacans Diktum: »Ich ist immer ein Anderer???« vor. Wenn er sich selbst aus Bruchstücken rekonstruiert, meint er damit auch die anderen, die Verlorenen, die Toten, deren Nachfahren und künftige Generationen. Wie schon viele vor ihm, nimmt auch er den Juden als Bild vom Menschen schlechthin. Daß dieses Bild seine Züge trägt, ist — auch in einem ganz dramatischen Sinn — ein Zufall.

Was liegt da näher, als sich der Figur des golem zuzuwenden, eines Ebenbilds des Menschen aus Ton, eines Produktes kabbalistischer Zahlenmystik aus der Alchimistenküche des Rabbi Loew im Prag des 16. Jahrhunderts. In L'Homme de Terre (1989) webt Lehman ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen Bildhauer (Paulus Brun) und Modell (Boris Lehman), bei dem Realität, Kunstprodukt und Fiktion ein teils erheiterndes, teils gespenstisches Verwirrspiel entfachen. Boris Lehman hinter der Kamera bringt durch Nahaufnahmen und dialogische Bildwechsel Boris Lehman aus Ton zum Leben und führt das lebende Modell Lehman in die Erstarrung. Als die Tonfigur sich dann, umringt von Francis-Bacon-artigen Skulpturen, im Regen aufzulösen beginnt und zerfällt, hat man einen kompletten Zyklus von Pygmalion-Mythen, Bilderverbots-Verletzungen und postmoderner Autorenschaft durchlaufen. Am meisten berührt hat mich Symphonie (1979), das schwarzweiße Porträt eines Mannes, der wie im Fieber mit lauter Stimme und verteilten Rollen die Zeit während der deutschen Besatzung nachspielt, als er mit vierzig anderen auf einem Dachboden versteckt lebte. Die gehetzte Notwendigkeit, mit der er (zu wem?) spricht, erinnert an Artaudsches Theater. In einem Film im Film schließlich ändert er den Ausgang der Geschichte. Die Kamera zeigt dabei zunächst das Filmteam Lehman, und dann den Mann mit seinem filmischen Ebenbild, allein. Mariam Niroumand

Filme von Boris Lehman heute und morgen im Arsenal, jeweils um 18 Uhr, Welserstraße 25, Tiergarten. Der Regisseur ist anwesend.

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