Der ferne Osten Russlands

■ Kamtschatka - wilde Weite, exotische Natur, heiße Quellen und Vulkane. Grenzgebiet wird es genannt, denn auf der anderen Seite des Pazifiks liegen Amerika, im Südwesten Japan und Fernost.

Kamtschatka — wilde Weite, exotische Natur, heiße Quellen und Vulkane. Grenzgebiet wird es genannt, denn

auf der anderen Seite des Pazifik liegen Amerika, im Südwesten Japan und Fernost.

VONANSELMGRAUBNER

Kalt ist es. Bitterkalt. Alle Versuche, die ewig frierenden Füße mit Dauerläufen anzuregen, bringen kaum Erfolg, und daß die Hände irgendwann mal wieder warm werden, ist kaum vorstellbar. Gestern waren es 36 Grad, heute sind es bereits 40 Grad unter Null. Nur Kolja, der Rentierhirte, schwitzt trotzdem, er hat gerade zwei der Rentiere eingefangen, die in der tiefverschneiten Tundra mit Hilfe ihrer Hufe nach Mosen und Flechten suchen. Der feine, kaum sichtbare Flaum in seinem Gesicht ist zu einem weißen Fell aus Eiskristallen geworden. Immer wieder ißt er eine Hand voll Schnee, denn die Arbeit und die trockene Luft machen schnell durstig. Doch nun sind die Rentiere vor den Schlitten gespannt und traben in aller Ruhe vor uns her. Wir fahren zwei Stunden den Vivenka flußabwärts. Der Fluß mit seinen vielen Windungen ist auch im Winter die Lebensader der Tundra.

Die Landschaft verändert sich kaum. Sie ist flach und im Sommer sumpfig, bewachsen mit Gras, knorrigem Weidengebüsch und niedrigen Steinbirken. In weiter Ferne, im Süden, zieht sich die Bergkette entlang, die die Tundra von der Küste trennt, dort ist die Beringsee, die zum Stillen Ozean gehört. Endlich hat es die Sonne geschafft, ein wenig über den Gipfeln hervorzugucken, immerhin ist es bald Mittag. Doch hier oben im Norden sind die Nächte 18 Stunden lang, erst gegen neun Uhr beginnt die Morgendämmerung.

Kamtschatka, die Halbinsel im fernen Osten Rußlands, ist wilde Weite, exotische Natur mit heißen Quellen und Vulkanen. Etwa 160 sollen es sein, davon fast 30 noch aktiv, so steht es im Lexikon. Noch vor gut einem Jahr war Kamtschatka — so groß wie Gesamtdeutschland bei einer Einwohnerzahl wie Hannover — für Besucher gänzlich geschlossen; auch für Russen, wenn sie nicht Verwandte ersten Grades oder einen speziellen Dienstauftrag hatten. Grenzgebiet wird es genannt, denn auf der anderen Seite des Pazifik liegen Amerika, im Südwesten Japan und Fernost. Auch nach dem Putsch blieb vieles beim Alten, nur mit List können Ausländer einreisen, und die Verlängerung des Visums — in Moskau eine Routineangelegenheit — dauerte hier gut vier Wochen.

Hier ist eben nicht Moskau, sagt der Milizionär in seinem Büro, der mal wieder ein Protokoll aufgenommen hat und mich am liebsten gleich nach Hause schicken würde. Doch hat dieses Apparatschik-Biotop, das sich in den Jahrzehnten der Abgeschiedenheit entwickeln konnte, auch sein Gutes, behaupten viele. Denn das jetzige Chaos der Großstädte im Westen des Reiches kommt zumindest in einigen Bereichen verspätet nach Kamtschatka. Die Krankenhäuser funktionieren, die Lehrer haben nur im November mal kurz gestreikt, und Bettler sieht man kaum. Doch auch hier werden die Lebensverhältnisse von Tag zu Tag schwieriger. Die Versorgung mit Nahrung ist bereits ähnlich desolat wie in Moskau, daran kann auch das System mit den Lebensmittelmarken kaum etwas ändern. Das Thema Essen beherrscht denn auch alle Gespräche, gleich gefolgt vom Thema Geld. Dabei sind es nicht allein die Preise, die so deprimierend schnell steigen und seit Anfang Januar drei Viertel der Bevölkerung quasi über Nacht in die Armut getrieben haben. Die neueste Version des Defizit: In den Banken und den Auszahlungsstellen der Unternehmen gibt es kein Bargeld mehr. Trotz gehobener Löhne fehlt Geld, weil die Notenpressen in Moskau nicht nachkommen.

Lukrative Geschäfte mit Joint-ventures

Die Unterschiede zwischen Arm und Reich werden auch in Kamtschatka immer krasser. Auf der einen Seite die ganz normalen Leute, die hier früher recht gut verdienten und oftmals extra wegen des hohen Polarzuschlages zum Geldverdienen hergekommen waren. Doch seit einiger Zeit gibt es auf der anderen Seite die Defizitgewinnler, die Mangelwaren irgendwo einkaufen und an anderer Stelle für ein Vielfaches verkaufen. Meist sind es die schnellsten und cleversten aus der alten Garde, die ihre vielen Verbindungen und oft noch dazu ehemaliges Parteieigentum nutzen. Geschäfte kann man mit allem machen: mit Wodka, Zucker oder Fisch, mit Baumaterial, Lkws, oder Benzin. Beliebt sind auch Joint-ventures mit Partnern aus Alaska oder Fernost, aber auch Schweizer und Holländer sind schon da. „Leider kommen noch viel zu wenig europäische Geschäftsleute nach Kamtschatka“, klagt einer der frischgebackenen Manager in Nadelstreifendienstkleidung. „Besonders die Deutschen fehlen. Noch gibt es keinen richtigen Wettbewerb, wir hiesigen Partner können Verträge oft nur so nehmen, wie sie uns angeboten werden“, sagt ein ehemaliger Verbindungsoffizier der sowjetischen Armee in der DDR.

Und sie nehmen sie. Wer ein paar hundert Dollar Zusatzgehalt bei einem Joint-venture verdient, ist bei dem heruntergepurzelten Rubelkurs praktisch Millionär. Nur sind die Aktivitäten der auf schnelle Rückzahlung gerichteten Gemeinschaftsunternehmen meist wahres Gift für den lokalen Markt — wie fast immer, wenn die Reichen mit den Armen Geschäfte machen.

Ende Januar eröffnete in Kamtschatkas Hauptstadt Petropawlowsk ein neuer Supermarkt, ein Joint-venture mit schweizerischen und holländischen Partnern. Schon im Oktober sollte er eröffnet werden. Doch die Öffnung verzögerte sich — die Waren fehlten. Anfang Januar, nachdem zum Verkauf bestimmte, bereits abgelaufene Lebensmittel (Marmorkuchen in Alufolie) in Petropawlowsk für 25 Rubel auf dem Markt auftauchten, gab es erste Gerüchte, daß der Laden wohl nie aufmachen würde. Man erzählte sich, daß entlang der Bahnstrecke durch Sibirien holländischer Käse, Fertigpudding, Mayonnaise und Zwieback aufgetaucht waren. Irgendwelche Stadtoberen, die die Lebensmittelversorgung in ihren Geschäften verbessern wollen, entdecken verdächtige Container auf dem Bahnhof, lassen sie öffnen, stellen fest, daß das Haltbarkeitsdatum der Waren bald abgelaufen ist, und setzen sie dann so lange fest, bis es tatsächlich abgelaufen ist.

Somit haben sie die einleuchtende Begründung, die Lebensmittel so schnell wie möglich verkaufen zu müssen, damit sie nicht verderben. In diesem Fall bezahlt der Partner in Kamtschatka die Waren mit Krabben, bekommt aber großenteils nur minderwertige und wegen der Transportwege teure Sonderposten aus Holland. Er verkauft diese zu Preisen, die sich normale Leute sowieso nicht leisten können weiter. So tauscht die Bevölkerung von Kamtschatka ihren Reichtum für wenig Gegenwert. Hier sind es Krabben, im anderen Fall sind es Lachs und Kaviar, Erdgas, Rentierhorn oder aber Gold, das Firmen aus Alaska gerne in den Flüssen im Norden schürfen würden.

Die Russen und die Urbevölkerung

Auch der Vivenka, auf dem ich mit dem Rentierschlitten unterwegs bin, ist ein solcher goldhaltiger Fluß. Wenn sich die Lobbyisten in der Bezirksverwaltung durchsetzen, droht auch ihm, daß er von schwerem Schürfgerät umgewühlt wird. Und nicht nur Naturschützer rufen solche Projekte auf den Plan, hier offenbart sich auch das Mißverhältnis zwischen Russen und der von ihnen erst kolonisierten und später russifizierten Urbevölkerung. Die wirtschaftliche Grundlage der im Norden lebenden Korjaken, Ewenen und Ittelmenen ist der Lachs, der nur in glasklarem Wasser laichen kann und das Rentier, das die weite, unbeschädigte Tundra zum Leben braucht. Diese Volksgruppen, die jetzt zaghaft anfangen, ihr Selbstverständnis wiederzufinden, wären aufs Neue die Leidtragenden, wenn nach spätestens fünfzehn Jahren kein Gold mehr zu holen wäre. Dabei ist deren Situation in der Tat desolat und erinnert in vielem an die der Indianer in Nordamerika, die ja mit dem hiesigen Urvolk ethnisch verwandt sind.

Eine Landkarte von 1957 zeigt noch viele kleine, zum Teil uralte Siedlungen in der Tundra, die von den Regionalbehörden im Zuge der Systematisierung in den sechziger und siebziger Jahren einfach aufgelöst worden sind. Die dort lebenden Menschen mußten in bis zu 150 Kilometer entfernte große Dörfer umziehen, wo sie in Mehrfamilienhäusern und Wohnblocks untergebracht wurden. Die Versorgung und Verwaltung sind dadurch effektiver geworden. Viele Alte klagen darüber, daß sie sich in den neuen Siedlungen nicht mehr wohlfühlen. Schlimm wird es, wenn Arbeitslosigkeit, Alkoholismus Kriminalität und Krankheiten wie Tuberkulose hinzukommen.

Schleichende Entfremdung

Besonders benachteiligt sind die Kinder der Rentierhirten. Ihre Eltern sprechen oft noch ewenisch oder korjakisch und lehren ihren Kindern das Leben in der Tundra. Da mit sieben Jahren die Schulpflicht ruft, bleibt nur das russischsprachige Internat, wenn die Eltern mit der Herde mitziehen. Einige Monate nach der Einschulung, wenn die Kinder russischer Eltern bereits schreiben lernen, entscheidet eine Lehrerkommission (ohne Psychologen) in der Gebietshauptstadt über „lernschwachen Problemkinder“, meist die der Rentierhirten. Sie kommen dann oft in Sonderschulen, lernen Russisch und daß die Hauptstadt Moskau heißt — eine schleichende Entfremdung von ihren Eltern. Erste Projekte, die Kinder direkt in der Tundra zu unterrichten, sind selten. Allzu oft scheitern sie an Lehrermangel. Selbst die rechtliche Anerkennung der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit ist häufig sehr problematisch. Sie unterliegt der Allmacht der lokale Miliz. Sie allein entscheidet nach willkürlichen Kriterien, ob jemand zum Beispiel „Korjake“ in den Ausweis geschrieben bekommt, was verschiedene Vorteile wie Fischerei-, Jagd- und Weiderechte mit sich bringt. Ob das jetzt anders wird, wo sich auch in Kamtschatka die politische Landschaft verändert, daran zweifelt zumindest der Moskauer Menschenrechtsanwalt Oleg Ljamin, der sich kürzlich auf der Halbinsel umgesehen hat. „Wenn allein die bisherigen Gesetze eingehalten würden, wäre ja schon viel erreicht“, sagt er. Doch nach seinem Eindruck sitzen die lokalen Machthaber noch so fest im Sattel, daß sich wohl die Situation der Minderheiten so bald nicht verbessern wird.

Rentierhorn für die Koreaner

Kolja, der Korjake, hat aber im Moment andere Sorgen. Als festangestellter Hirte der ersten nichtstaatlichen Rentiereignergemeinschaft der Region kümmert er sich wenig um Politik. Jetzt hat er mit drei Kollegen die über 1.000 Tiere zählende Herde am Fuße der Bergkette auf einen frischen Weideplatz getrieben und danach noch ein Tier geschlachtet. Es gehört Rosalia Gregorewna, die ihrer Tochter, die aus dem vier Flugstunden entfernten Chabarowsk zu Besuch gekommen ist, eine Fleischration für die jetzt so schwere Zeit mitgeben will. Nun ist das Brot, das Kolja mitgebracht hatte, aber so steinhart gefroren, daß selbst sein Hund Mühe damit hat. Zum Glück brennt aber das Feuer für den Tee schon recht gut, so daß zusammen mit dem getrockneten Lachs und dem Rest Hartkeks doch noch ein gutes Mahl entsteht. Vielleicht schafft es ja die Eignergemeinschaft, das Rentierhorn für Dollars an die Koreaner zu verkaufen, damit sie für die Hirten mal wieder Filterzigaretten, besseren Tee und Zucker einkaufen kann. Und vielleicht, wenn die Zeiten wieder besser werden, ist ja auch mal wieder eine Flasche Wodka dabei.