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»Die Stalin-Bilder im Kiez sprechen für sich«

■ Der Mitarbeiter des Kreuzberger Bürgervereins SO 36, Rainer Sauter, zur Stimmung im Kiez nach dem tödlichen Anschlag auf ein Mitglied der rechtsextremen »Deutschen Liga« / Eine Diskussion über die wirklichen Probleme findet nicht statt

taz: Hat der tödliche Anschlag auf ein Mitglied der rechtsextremen »Deutschen Liga für Volk und Heimat« die Stimmung in Kreuzberg verändert?

Rainer Sauter: Die Folgen des Anschlags sind fatal, weil dadurch die Stimmung in dem ohnehin sehr prekären Stadteil polarisiert wurde.

Was heißt prekärer Stadtteil?

SO 36 gehört immer noch zum »Armenhaus« von Berlin. Es ist ein Bezirk mit vielen Konflikten und Problemen, die sich immer mehr verschärfen.

Wurde über den Anschlag öffentlich diskutiert, zum Beispiel auf einem Kiezpalaver oder einem ähnlichen Forum?

Ich teile die Befürchtung von vielen Kolleginnen und Kollegen aus Sozial- und Immigranten-Projekten, daß der Mordanschlag das wenige, was hier an Dialog noch da war, zerstört hat. Eine öffentliche Diskussion oder ein Kiezpalaver hat es meines Wissens nicht gegegeben. In Einzelgesprächen wird sicherlich viel darüber diskutiert. Es ist eine relativ große Betroffenheit spürbar, die aber sehr hilflos ist. Diese Hilflosigkeit spiegelt die allgemeine Stimmung im Kiez wieder, die schon seit zwei bis drei Jahren — noch vor Maueröffnung — so ist. Über Mietsteigerungen und Gewalt im Stadtteil und die extreme Zunahme der Beschaffungskriminalität in Form von Einbrüchen wird kaum öffentlich geredet. Der Bürgerverein SO 36 hat dazu ja ein paar Veranstaltungen gemacht, auch mit der Polizei. Die sogenannte politische Szene tauchte dort nicht auf. Sie hält sich bei diesen Themen vollkommen heraus.

Welche politische Szene meinen Sie konkret, und bei welchen Themen engagieren sich diese Leute stattdessen?

Wofür sich diese Leute engagieren, weiß ich nicht. Aber wenn ich mir die Kandidatur einzelner Gruppen zur BVV-Wahl ansehe, befürchte ich, daß die Ideologie im Vordergrund steht und nicht die konkrete Auseinandersetzung mit den Problemen. Es tritt zum Beispiel eine revolutionäre Gruppe an, die vermutlich aus dem autonomen Spektrum kommt, und die PDS. In den Fragen der Mieten, der zunehmenden Gewalt und der Drogenproblematik, wo immenser Handlungsbedarf besteht, tut sich bei diesen linken Gruppen nichts. Die Probleme werden als Erscheinungsform der politischen Entwicklung schlichtweg in Kauf genommen.

Mit was für einem Gefühl sehen Sie der diesjährigen sogenannten Revolutionären Kreuzberger 1.-Mai-Demonstration und dem anschließenden Straßenfest entgegen?

Das Straßenfest soll diesmal wohl auf der Oberbaumbrücke stattfinden. Verkehr und Oberbaumbrücke sind ja Themen, an denen zur Zeit unheimlich viele Bürger interessiert sind, weil sie davon in ihrem Alltag ganz direkt betroffen sind. Das Fest könnte sehr sinnvoll sein, wenn dabei gute Bündnisse mit den Bürgern vor Ort geschaffen würden. Wenn das Fest aber bloß ideologisch mißbraucht wird, um dem Staat mal wieder die Fratze zu zeigen, hat das mit Politik und konstruktiver Auseinandersetzung nichts zu tun.

Verkehren inzwischen auch rechtsextreme Gruppierungen in SO 36?

Nach dem Tod von Mete Eksi gab es in der Adalbertstraße Auseindersetzungen, die sehr undurchsichtig waren. Ich befürchte, daß der Anschlag in dem China-Lokal Kreuzberg stärker in den Blick rechter Gruppen gerückt hat und Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken zur Folge haben wird. So etwas gab es hier bisher zum Glück noch nicht.

Was muß getan werden, um so eine Auseinandersetzung zu verhindern?

Meiner Meinung nach liegt das Problem nicht bei den extremen Gruppen, die sich politisch radikal äußern, sondern im Zentrum der Macht. Aber die Große Koalition hat keine Antwort auf die fundamentalen Fragen, die diesen Stadtteil betreffen. Herr Landowsky sollte endlich zur Kenntnis nehmen, daß die Gewalt, die hier zum Tragen kommt, durch die politische Unfähigkeit ausgelöst wird.

Ist Ihnen bekannt, ob die antifaschistischen und antirassistischen Gruppen zum 20.April, Hitlers Geburtstag, Aktionen in Kreuzberg planen?

Diese Gruppen werden bestimmt irgend etwas machen. Das spiegelt die aufgeheizte Stimmung zwischen rechts und links wider und zeigt sehr deutlich, daß es diesen Gruppierungen nicht darum geht, praktische Lösungen für die Probleme zu finden. Sie sind nur an einer ideologischen Polarisierung intressiert. Die Mao- und Stalin-Bilder, die im Stadtteil aushängen, sprechen doch für sich: Manche politischen Gruppen fahren nur noch auf die pure Ideologie ab. Sie sind nicht mehr in der Lage, sich mit den Menschen vor Ort auseinanderzusetzen. Interview: Plutonia Plarre

Der 42jährige Rainer Sauter ist als Mitarbeiter des Bürgervereins SO 36 in der Gemeinwesenarbeit tätig.

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