: DAS DIPTYCHON
■ Neu, Neu, Neu! Bildpaare, Paarbilder im Volksmuseum Folkwang
Jeder Oberstudienrat weiß, daß die Vorsilbe „Di“ griechisch ist und „zwei“ bedeutet. „Ptychon“ ist keine Schlangenart, sondern eine Klapptafel. Also ist ein Diptychon eine zweiflügelige Tafel.
Immerhin dieses Wissen nehmen weniger Gebildete von einem Besuch des Folkwangmuseums derzeit mit nach Hause; Folkwang, da liegt die Volksaufklärung ja schon im Namen! Und nach dem Grundsatz, daß Wiederholung den Lehrstoff besser verdauen läßt, wurden die Wände des großen Klassenzimmers im ersten Stock mit vielen zweiteiligen Tafeln wie aus Westermanns Lehrmittelprogramm behängt. Der Rechenlehrer war mit allen Wässerchen gegenwärtiger Didaktik gewaschen und sorgte deshalb für reichlich Abwechslung in Formen und Farben, Formaten und Namen. Wenn er nicht selbst darauf hingewiesen hätte, wäre es den SchülerInnen gewiß entgangen, daß er, um Eintönigkeit zu vermeiden, Tafeln unterschob, die drei- oder mehrfach geteilt sind; das Ausstellungsplakat selbst wird von einem solchen Mutanten geschmückt.
Aber das macht gerade den Witz aus, den der listige Schulmeister anbringen will: im Grunde nämlich läßt sich alles durch zwei teilen, selbst das Ungerade, denn dann ergibt sich z.B. das Verhältnis 2:1. Ewige Weisheit, die sich auf uns ergießt in einer Zeit allgemeiner philosophischer Haltlosigkeit.
Als wäre diese Sinnstiftung noch nicht genug, wird im nächsten Erlebnisgang die traditionelle Gewißheit von der Substanz der Dinge vernichtet. Eine Tafel, wer wüßte es nicht, war bis dato eine üblicherweise viereckige Platte, mit gewissen vieleckigen Ausnahmen. Im Zeitalter der Transformationen erhält auch sie eine neue Definition mit Dimension. Provokativ konfrontiert die Ausstellung das Publikum nämlich mit Tafelhaftem, das mit kühnem Schnitt das Flächige aus dem Tafelbegriff eliminiert.
Neu neu neu! Erschütternde Seherfahrungen!
Das Folkwangmuseum bestimmt die Avantgarde neu. Nachdem es seine „Jungen Wilden“ im Keller verschwinden ließ (oder wurden die großen Dinger einfach weggeschmissen?), war mancherorts bereits ein ästhetisches Vakuum befürchtet worden. Diese Angst ist nunmehr überflüssig.
Strenge Geometrie, hart aneinander stoßende Farbfelder wechseln ab mit raffiniertem Lichterspiel in monochromatischen Texturen. Zwei Felder auf einer Tafel ergeben ebenso den Schein eines Diptychons wie zwei weitauseinanderliegende Elemente, die nicht anders dürfen, als Diptychon zu sein. Gewiß, diese Bilder, Tafeln, Bilderpaare und Paarbilder verlangen eine hohe Bereitschaft des Publikums, sich unverstellt der sinnlichen Botschaft zu stellen. Nicht immer mag das leicht fallen, dann erleichtert der Griff zum Katalog das Verstehen. Plötzlich wird ein Geheimnis faßbar, wenn es heißt, daß die „Reckteckformen (...) sich als Form in einer Beziehung zu einer anderen Form darstellen. Dies geschieht nicht im Sinne einer formalen Spannung oder eines Gleichgewichts, sondern in einer Art existentieller Spannung: die Rechtecke fühlen sich im Gleichgewicht.“ Ich fühle mich bei der Lektüre solcher Sätze im Rechteck.
Etiche Exponate erfreuen oder beschäftigen das Auge. Ein Neonobjekt von Martha Laugs, ein gelb-blaues Fischli von Raimer Jochims und eine Kippfigur von Francois Morellet seien stellvertretend genannt. Insgesamt handelt es sich aber um eine Veranstaltung, deren Idee dem Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte entnommen ist und die zu versuchen scheint, die Gegenwartskunst in dieses angesehene Werk wegzuloben.
Geteilte Bilder — Das Diptychon in der neuen Kunst. Museum Folkwang, Essen, bis zum 3.Mai 1992
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