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EINBILDUNGSREFORM Von Mathias Bröckers

Acetylsalicylsäure, der Wirkstoff des „Aspirin“, ist eines der meistverkauften Medikamente überhaupt — ob Kopfweh, Kater, Grippe, Fieber, „ein Aspirin“ ist die Kur schlechthin für vielerlei Alltagswehweh. Daß der Dauergebrauch der kräftigen Säure den inneren Organen schlecht bekommt, steht zwar auf dem Beipackzettel, was aber viele Streßgeplagte nicht davon abhält, das Zeug so unbedenklich einzupfeifen wie Bonbons. Seit einiger Zeit können sie das, zumindest in den USA, wieder mit gutem Gewissen tun. In einer Welle von Werbespots werden die Fernsehzuschauer mit einer neuen Eigenschaft des Arznei-Klassikers bombardiert: der Fähigkeit von Aspirin, das Risiko eines Herzinfarkts zu reduzieren. Da bei medizinischen Aussagen in Werbesendungen strenge Maßstäbe angelegt werden, könnte der Bayer-Konzern ohne wasserdichte Belege einen solchen Werbespot nicht senden. Man kann also davon ausgehen, daß Aspirin in den USA tatsächlich vor Herzinfarkten schützt. In England ist das allerdings nicht so: eine sechsjährige Untersuchung, duchgeführt von 5.139 britischen Ärzten, hat keinen Beweis dafür gebracht, daß das Infarktrisiko durch Aspirin-Prophylaxe reduziert wird. Wie dies? Die Medizin steht vor dem Rätsel eines gewaltigen Placebo-Effekts.

Placebos sind Medikamentattrappen ohne Wirkstoff, und ihre Verwendung, etwa als Kontrollmittel bei Versuchen „echter“ Medikamente, gewährt einen Einblick in das vielleicht bedeutendste medizinische Phänomen überhaupt: den Kontrollmechanismus des Geistes über den Körper. Es soll ja immer noch Leute geben, die (mit Marx) meinen „Das Sein bestimmt das Bewußtsein“ — und wie der Aspirin-Effekt zeigt, kann der Glaube daran auch durchaus dazu führen, daß es z.B. in der DDR funktionierte, in der BRD aber nicht — die Placebo-Forschung indessen macht deutlich, daß es eher umgekehrt läuft: das Bewußtsein bestimmt das Sein. Bei einem Versuch wurden jeweils zehn Personen in zwei Räumen untergebracht, von der einen Gruppe erhielten neun ein stimulierendes Amphetamin, eine Person ein schlafförderndes Barbiturat — bei der Kontrollgruppe war die Verteilung genau umgekehrt. Ergebnis: die Person mit dem Barbiturat schlief nicht ein, sondern war so putzmunter wie alle anderen, im zweiten Raum, wo alles schnarchte, wurde auch der einsame Amphetaminnehmer vom Schlaf übermannt.

Können wir also davon ausgehen, daß ein Brite sein Herzinfarktrisiko durch Aspirin-Einnahme mindern kann, wenn er nach USA reist, wenn er aber zu Hause bleibt, nicht ? Die Irritationen, die der Placebo-Effekt aufwirft, sind grundsätzlicher Art: daß der Glaube Berge versetzen, der Geist Tumore schmilzen lassen kann, scheint deswegen so absurd, weil wir Sein und Bewußtsein, Materie und Geist, immer noch für zwei völlig verschiedene Dinge halten. Die Placebos zeigen, daß Geist und Körper viel zu eng miteinander vernetzt sind, um als unabhängige Einheiten gelten zu können — Hard- und Software gehen im Menschen fließend ineinander über. Für die Kostenexplosion im Krankheitswesen kann es kaum eine bessere Nachricht geben, und predigte der Mainstream der Wissenschaft nicht weiterhin den Glauben an einen dumpfen Dualismus, hätten sich die eleganten Software-Lösungen gegen das überteuerte Herumbosseln an der Hardware längst durchgesetzt. Moliere 2000: der eingebildete Gesunde.

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