: Russische Regierung reicht Rücktritt ein
Jelzin fordert Kabinett auf, bis zum Abschluß des Kongresses der Volksdeputierten im Amt zu bleiben, dann werde er entscheiden/ Regierung will, daß die Abgeordneten ihre Kritik am Wirtschaftskurs zurücknehmen ■ Aus Moskau K.-H. Donath
Die russische Regierung unter Präsident Boris Jelzin hat gestern nachmittag am Rande des Volksdeputiertenkongresses ihren Rücktritt angekündigt. Sie werde nur im Amt bleiben, wenn der Volksdeputiertenkongreß, das höchste gesetzgebende Organ Rußlands, die in der Sonnabendsitzung verabschiedete Resolution über die Wirtschaftspolitik revidiere. Nach den Worten von Vizeregierungschef Jegor Gaidar forderte Jelzin das Kabinett allerdings auf, noch bis zum Abschluß des Kongresses im Amt zu bleiben. Danach werde er über das Rücktrittsgesuch entscheiden.
Die Abgeordneten hatten harsche Kritik an der Regierung geübt und Korrekturmaßnahmen gefordert, die den eingeschlagenen Reformkurs ad absurdum führen würden. In einem vierseitigen Papier, das im Kongreßgebäude kursierte, versuchte Gaidar, Hauptinitiator des Reformpaketes, die verheerenden wirtschaftlichen Konsequenzen für Rußland aufzuzeigen: Rußland tritt wieder in die Isolation und fände keinen Anschluß an den Weltmarkt. Das Haushaltsdefizit steige ins Astronomische, verbunden mit einer Überinflation, die den Lebensstandard noch weiter senken würde. Anreize für produktive Arbeit blieben aus. Die Rückzahlung ausländischer Kredite würde fällig, die den Ruin des Landes zur Folge hätten, und mit Fremdinvestitionen sei dann nicht mehr zu rechnen. Das dramatisch gezeichnete Bild sollte die Abgeordneten gestern noch einmal zum Umdenken bewegen. Doch in der Morgensitzung gelangte der Antrag auf Neubefassung gar nicht erst auf die Tagesordnung. Der Vorsitzende des Kongresses Rußlands, Ruslan Chasbulatow, wies den Antrag in Oberlehrermanier zurück: Schließlich sei dies eine Versammlung des Parlamentes und keine Kabinettssitzung. Damit ist dieser Punkt aber nicht endgültig gestrichen.
Das Vorpreschen der Exekutive hat eher taktischen Charakter. Wirtschaftsminister Andrej Netschajew meinte dazu: „Wir wollten ihm (Jelzin) eine Trumpfkarte in die Hand geben.“ Aus dem Beraterkreis des Präsidenten sickerte durch, die Minister seien alles andere als entschlossen, das Zepter tatsächlich aus der Hand zu geben. Die Rücktrittsdrohung wurde hier schon von Anfang an als eine mögliche taktische Variante gehandelt, sollte der Kongreß auf Konfrontationskurs steuern. Auch Gaidar zieht es vor, im Amt zu bleiben. Voraussetzung dafür sei, „wenn der Kongreß seine Position ändert oder der Präsident eine Entscheidung fällt, die es uns erlaubt, unsere Arbeit fortzusetzen“. Auf jeden Fall gibt es keinen Zweifel an Jelzins Entschlossenheit, an der Spitze Rußlands seinen Kurs einzuhalten. Seit Sonnabend mittag, kurz vor der unsäglichen Entscheidung des Parlamentes, hat sich Jelzin nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt. Das handelte ihm Rügen auch aus den eigenen Reihen ein. Denn wäre er anwesend gewesen, hätte er kraft seiner Autorität noch maßgebend eingreifen können. Zuversichtliche Stimmen bauen auf Jelzins häufig demonstrierte Eigenschaften, aus einer politischen Krise gestärkt hervorzugehen.
Egal welche Strategie die Regierung jetzt verfolgt, sie vollzieht auf jeden Fall eine gefährliche Gratwanderung. Aber auch der Tschetschene Ruslan Chasbulatow, einer der anfangs moderateren Gegenspieler Jelzins, mag sich am Ende verkalkuliert haben. Er versuchte seit längerem, die Macht der Legislative, des Volksdeputiertenkongresses und des Obersten Sowjet gegenüber der Exekutive zu stärken. Seine Begründung suchte er bei den parlamentarischen Regierungssystemen des Westens. Allerdings haben beide Gremien unter seiner Leitung seit dem August- Putsch nichts dazu beigetragen, die demokratischen Fundamente Rußlands zu festigen. Der Sonnabend war in seinen Augen ein Erfolg. Er könnte aber auch ein Pyrrhussieg sein.
Läßt sich der Volksdeputiertenkongreß nicht auf eine Abschwächung seiner Forderungen ein, kann sich der Präsident selbst an das Volk wenden. Pläne sind in Vorbereitung, in diesem Fall ein Referendum abzuhalten und den Kongreß auszuschalten. Ein Volksentscheid, der den Regierungskurs grundsätzlich bejahte, bedeutete das Aus für den Volksdeputiertenkongreß in seiner jetzigen Zusammensetzung. Jelzin genießt noch genügend Vertrauen, um sich auf diese letzte Möglichkeit einzulassen. Das mag die Kompromißbereitschaft der Deputierten am Ende doch noch im Sinne der Regierung beeinflussen. Gestern taten die Deputierten noch so, als wäre nichts geschehen. Sie stritten über die künftige Bezeichnung Rußlands: Republik oder Föderation?
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