Kein Weg zur Orchard Street

■ Zum vorletzten Mal: Das Arsenal zeigt im Martin-Gropius-Bau Filme anläßlich der »Jüdischen Lebenswelten«

Noch bis zum 26. April zeigt das Arsenal im Kinosaal des Martin-Gropius-Baus von Mittwoch bis Sonntag um 17 Uhr und 20 Uhr jüdische Filme aus verschiedenen Ländern. Ein Teil der Filme wird im Arsenal wiederholt.

Die vorletzte Woche der Reihe beginnt mit zwei höchst ungleichen Variationen des Tewje-Themas, der Geschichte des Milchmannes aus der Ukraine, dessen Tochter einen Christen heiratet und der mit Sack und Pack aus dem Dorf vertrieben wird. Während Maurice Schwarz' Tevye (USA, 1939) in Jiddisch und Schwarzweiß eine gespenstisch genaue Vorahnung der nahen Zukunft gibt, ist Norman Jewisons Fiddler on the Roof (GB, 1971) bloß ein folkloristischer Schmarren mit Broadway- Chorus auf grünen Weiden. Der Milchmann Tewje muß immer wie aufgestachelt »Traditiooooon« brüllen, so als würden die Shtetl-Bewohner ihre Gewohnheiten ernsthaft als etwas ulkige »Bräuche« betrachten (Mittwoch und Donnerstag abend).

Schwamm drüber. Wenden wir uns lieber direkt dem Höhepunkt der Woche zu, nämlich Chantal Akermans Histoires D'Amerique (Belgien, 1988), einem Filmkaleidoskop jüdischer Immigranten-Erfahrungen. Ein Schiff nähert sich der Freiheitsstatue in funkelnder Nacht, die Luft wirkt schwer, die Stadt liegt da wie eine glitzernde Festung, und tatsächlich werden die Immigranten, die uns ihre Geschichten erzählen, auch nie ganz darin aufgenommen — alle Aufnahmen finden im Freien statt. Eine Stimme aus dem Off gibt zunächst die Vorgeschichte des Films bekannt: Auf einem Dorf in Polen war einmal ein Rabbi, der ging jeden Tag zu einem Baum, um zu beten, und Gott hörte ihn. Sein Sohn wußte nicht mehr, wo der Baum war, aber ging zu irgendeinem Baum, und Gott hörte ihn. Sein Enkel weiß nicht mehr, wo der Wald war, und dessen Enkel weiß auch das Gebet nicht mehr, aber er erzählt die Geschichte seinen Kindern — und Gott hört ihn. Die Stimme aus dem Off sagt weiter: »Und ich habe nicht mal ein Kind.«

Dann, in tiefster Nacht auf seltsamem Gelände, South 111th Street in Williamsburg, Brooklyn, stehen einzelne Leute verschiedenen Alters und erzählen kurze Geschichten, in denen es vor allem um das Zusammenleben mit der jeweiligen Frau, dem Mann, den Kindern geht. Die Stärke dieser Art von Geschichtsschreibung: sie prägt sich dort ein, wo das Gedächtnis am vitalsten ist, subkutan sozusagen. Aber wie zuvor schon in Tout Une Nuit stoppt Akermann die Überwältigung durch Trauer, in dem sie auf Nahaufnahmen verzichtet, Abschleppwagen durch die Szene heulen läßt und ab und an Sketche mit jüdischen Witzen einlegt. Auch läßt sie spüren, daß die Schauspieler erlernte Texte sprechen. Es sind Geschichten aus Briefen, die ratlose Immigranten an eine jüdische Zeitung geschrieben haben. Ein hohlwangiger junger Mann erzählt, wie er Kommunist wurde und langsam ausbrannte, wie selbst seine Kinder ihm fremd wurden (»wie Wesen ohne Vergangenheit«), bis er anfing, nachts heimlich wieder den Talmud zu studieren. Eine Lösung ist das auch nicht, wie überhaupt die Stimmung des Filmes fast untröstlich wäre, gäbe es da nicht ein zaghaftes Zusammenfinden.

Als es hell wird, sieht man, was für eine Mondlandscahft und Abfallhalde diese Nachbarschaft ist. Da stehen die Protagonisten dann zusammen im Regen, unter grotesken Plastikschirmen, und versuchen, hemandem den Weg zu Orchard Street zu zeigen — ohne Erfolg. Keiner weiß mehr den Weg dorthin (Samstag abend).

We were so beloved (USA, 1981-85) ist der Titel eines Dokumentarfilms über deutsche Immigranten in Washington Heights, New York. Er lohnt sich für diejenigen, die sich für das Verhältnis zwischen den westlich-assimilierten und den östlichen Juden interessieren.

Sehr offen bekennen die Interviewpartner (Familienangehörige des Regisseurs), daß sie, als die ersten polnischstämmigen Juden deportiert wurden, noch dachten, daß die ohnehin nicht »nach Deutschland paßten« mit ihren Bärten, Kaftanen und Schläfenlocken — im Gegensatz zu ihnen: »Wir waren so beliebt.«

Trotz (oder wegen) aller dann folgenden Erfahrungen wiederholte sich diese Haltung auch im New Yorker Exil: Die Ostjuden kamen den Amerikanern so fremd vor, daß sie dann keinen von ihnen mehr wollten. Also hieß es: Das Boot ist voll... (Sonntag, 17 Uhr). Mariam Niroumand