: Tasten im Ungesicherten
■ Ulrike Grossarths »Schulen über der Erde« in der Zwinger Galerie in Kreuzberg
Vor einigen Jahren hielt Derrida eine denkwürdige Lehrveranstaltung ab. Er kam in den Seminarraum, schaute in die Menge neuer Studenten, zog ein Manuskript aus der prallen Tasche und sagte, er habe weder eine Methode noch eine Lehre, noch eine Rezeptur zu bieten, sondern ein Problem. Und alles, was er in dieser Stunde wolle, bestünde darin, die Anwesenden so in dieses Problem zu verführen, daß es jedem einleuchtet. Man könne es nicht nur intellektuell verstehen. Er wolle ein Problem schaffen, das sich nachdrücklich der Erfahrung und also der Zeit verdankt. Erst später würde man sehen. Und Fragen gab es mehr als Antworten.
Diesem didaktischen Impuls auf verführerischen Abwegen scheinen Ulrike Grossarths Arbeiten sich zu verdanken. Es geht weniger um gesichertes Wissen als um Tasten im Ungesicherten. Zwar nennt sie ihre Ausstellungen Lektionen, Material fürs Diktat oder, wie jetzt in der Zwinger Galerie, Schulen über der Erde, aber der Lesestoff ist nicht umstandslos referierbar, entspringt keiner zentralen Idee und geht in keiner These auf. Das Wesentliche liegt in der Bewegung von einem Moment zu einem anderen. »Ich überlasse mich dem Vorgang ohne Vorstellung von einem Nachher«, sagt sie. »Im Zuge dieses Vorgangs«, so fährt sie fort, »ist der menschliche Körper aus den Bedingungen entlassen worden, die bisher für ihn bestimmend waren. Und er tritt unmerklich in einen anderen Raum über. Der neue Handlungsraum begnügt sich mit Impulsen.«
Die Installation der Zwinger Galerie ist ein solcher Handlungsraum. Und wer das Glück hat, allein darin herumzugehen, wird nicht in die Verlegenheit kommen zu glauben, er wüßte mehr als die Künstlerin und hätte also die Antworten auf ihre Fragen bereits aus dem Fachbereich Ideen-Kunst vorformuliert im Kopf. Grossarth illustriert weder Ideen, noch benügt sie sich mit Gags oder Einfällen. Der Raum im Zwinger ist keine Besucher-Schule, sondern eine Versuchsanordnung, die das Risiko einschließt zu mißlingen — falls derjenige, der sich auf das Experiment einläßt, darauf peilt, das zu erkennen, was er ohnehin schon immer wußte.
»Indem ich mich weiterbewege, reiße ich die eben geschaffene Form mit fort«, sagt sie. Der Aspekt des Didaktischen und der des Impulsiven bringen ein Forschungsprojekt in Stellung, das im umfassenden Sinne als Entdeckung passiven Lernens aufgefaßt werden kann. Sie untersucht die Bewegungsgesetze, die sie bewegen. Dies setzt ein leichtes Schielen voraus. Als beobachte sie einen Tanzschritt, den sie verinnerlicht hat, ist sie dem kulturellen Einflußwinkel der Spontanität auf der Spur: der unmerklichen Dressur im Lauf des Lebens.
Diese Vorbedingung ist Grundlage ihres Handlungsraums. Insofern ist ihre Vorgehensweise analogisch und folgt einem ästhetisch-mimetischem Modell. Dies verbindet sie mit den Künstlerinnen Katharina Karrenberg, Dagmar Demming, Astrid Klein, der frühen Laurie Anderson. Sie verzichtet auf Deckung vorgängiger Themen und verlegt sich auf Entdeckungen im Vorläufigen, Unabgeschlossenen — vorbei an dem, was man für das Wesentliche hält. Voreilige Schlüsse sind innerhalb ihres Vorgehens verführerisch mit einem »Vielleicht« versehen: alles unter Vorbehalt und todernst ironisch.
Das Wesentliche aber ist verstreut. Wer weiß schon, was es wirklich geprägt hat. Es zählt nicht die schlüssige Story, sondern die Bewegung von einem zum anderen Moment: eben das, was sie aneinanderreiht. So wird ein »Punkt erreicht, der nicht durch vorgefertigte Muster von Handlungen oder Bewegungen geprägt ist«, wie Grossarth betont und sich in ihrem Handlungsraum entsprechend verhält. »Mich interessiert die Handhabung von Gegenständen, die von Gegenständen selber vorgegeben werden«, fährt sie fort. Die Gegenstände tun etwas: sie fordern eine bestimmte Einstellung. So wie ihr Handlungsraum etwas tut: er verführt zu ungewissen Beziehungsverknüpfungen. Und die Beruhigung des Eindeutigen stellt sich nicht ein.
Sie setzt fünf Tische in den Raum und ordnet darauf Haushaltswaren an. Sie stellt Diaprojektoren auf und läßt sie ringsum Bilder an die Wand werfen. Man geht zwischen den Tischen und Bildern hin und her. Immer ist etwas im Rücken — aber blind. Vorne und hinten ist nie geklärt. Man tastet in einem Raum herum, den man nicht versteht. Also beginnt man, relative Ordnungen herzustellen, und versucht, Inhalte zu verbinden: Seife, Batterien, Salz, Garn, Kafka, Chamisso und Blockschokolade könnten als Wirtschaftswerte und Energiespender durchgehen; Schwamm, Birne, Vanillezucker als Dada-Gruß an »Nähmaschine, Regenschirm, Seziertisch«. Man spielt mit Möglichkeiten, exerziert Denkformen und Verstehensmodelle durch. Alles bleibt unverbunden nebeneinander. »Heterogenität« erweist sich aber in diesem Fall als Begriff mit kurzer Reichweite. Denn Grossarth, so ist zu vermuten, geht es gar nicht um Inhaltsverknüpfungen. Es geht um poetische Valenz, das heißt die Beziehung von Statik (Tische) und Dynamik (Dia), von Licht und Schatten, von Materialien und Auflösung (Batterie, Salz, etc.). Es geht um den Transfer von einem Moment zum anderen. Ihre Fragen lauten: Woher kommt die Verwandlungsenergie? Welchen Schemata folgt das Begreifen? Es geht mithin auch um die Kunstproduktion selbst, weniger um das Produkt.
Schulen über der Erde ist eine Metaschule als Handlungsraum. Wer ihn betritt, geht durch viele Ungewißheiten wie durch einen labyrinthischen Bau. Erst später, wenn man die Empore hinauf ins Direktorium steigt, wird man sehen, worin man sich befand: alles im Halbdämmer, unscharf und leicht verwackelt. Erst später, so ist anzunehmen, wird man erzählen können, wovon man nicht nach altem Muster lernen kann. Und wer nicht ein leichtes Rieseln über den Rücken spürte, wird nichts verstanden haben. Der Handlungsraum kippt in eine gewisse Schwebe und verliert durch eine leichte Verrückung seine Schwere: für jene, die noch überrascht werden können und die anerkennen, daß es ein Verstehen vor dem Begreifen gibt. Das Risiko liegt in der Verdunkelung von Klarheiten, die Chance in der Entdeckung schematischer Ablenkungen. Peter Herbstreuth
Zwinger Galerie, Dresdener Str. 125, Berlin 36, Mo. bis Di. 11-19 Uhr, Sa. 11-14 Uhr, bis 18. April.
Heute um 19 Uhr findet in den Räumen der Galerie ein Gespräch mit der Künstlerin statt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen