DEBATTE: Brücken bauen, statt einreißen
■ Die SPD hat Antworten auf die neuen Fragen in den Ost-Bundesländern
Recht gehabt zu haben, zählt in der Politik nicht. Die Leute wollen wissen, wie es weitergeht. Darauf haben sie einen Anspruch. Es sei mir dennoch gestattet, zu dem Artikel von Ulrich Hausmann einige Anmerkungen zur jüngsten Vergangenheit zu machen. Ich bin es allmählich leid, mir ständig anhören zu müssen, die SPD habe keine Konzepte, wie wir aus der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Misere im Zuge der Herstellung der deutschen Einheit herauskommen wollen. Der Prozeß der inneren Einheit leidet unter einem Legitimationsdefizit und unter einem ökonomischen Defizit. Der Kanzler hat von Anfang an die deutsche Einheit als seine Privatsache behandelt. Kohl wollte als der Kanzler der deutschen Einheit in die Geschichte eingehen und gleichzeitig die anstehenden Bundestagswahlen gewinnen. Beides ist ihm gelungen. Aber zu welchem Preis?
Die SPD setzte sich damals dafür ein, daß das Volk über die Einheit der Deutschen abstimmt. Hätte diese Volksabstimmung stattgefunden, es hätte sich eine überwältigende Mehrheit der Deutschen in Ost und West für die Einheit entschieden, und es bestünde heute eine ganz andere Legitimationsgrundlage, Lasten von der Bevölkerung abzufordern. Verpaßt wurde ebenfalls, die Wahrheit über die Mühsal der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse zu sagen und über das Ausmaß der Finanzierung. Die SPD wurde bitter dafür bestraft, daß sie vielleicht taktisch unglücklich diese Wahrheiten den Deutschen zugemutet hat.
In diesem Zusammenhang Biedenkopf als den wirklichen oppositionellen Erneuerer der Regierungspolitik herauszustellen, wie das Hausmann tut, geht an den Realitäten vorbei. Auch dieser Biedenkopf hat seine bessere Erkenntnis der Wahlkampfstrategie des Kanzlers untergeordnet. Hat man schon vergessen, wie Biedenkopf nach einer Sitzung des CDU-Bundesvorstandes vor die Mikrophone trat und unisono mit seinem ungeliebten Kanzler verkündete, wegen der deutschen Einheit seien keine Steuererhöhungen nötig?
Gescheitert ist das billige Remake Ludwig Erhards, wonach die Einführung der D-Mark ungeahnte privatkapitalistische Kräfte freisetzt, die zu Wachstum und Wohlstand für alle führen. Gescheitert ist auch eine Politik, wonach die Privatisierung von Betrieben der beste Weg zur Sanierung sei. Reinhard Höppner, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Landtag von Sachsen-Anhalt, sprach kürzlich davon, daß man die Rolle des barmherzigen Samariters mit dem Eroberer besetzt hätte. Es ist schon erstaunlich, daß gerade diejenigen, die die freie Marktwirtschaft ideologisch am höchsten halten, offenbar am wenigsten über ihre Wirkungsmechanismen Bescheid wissen. Natürlich haben westliche Unternehmen das primäre Interesse, beim Aufkauf von Betrieben Märkte abzusichern und Produktpaletten zu arrondieren. Das Motiv des Helfens muß dem Unternehmer in der Marktwirtschaft bei Strafe des Untergangs fremd sein. Welch ein Irrtum, den Aufbau der neuen Länder den Unternehmern zu überlassen!
Das sozialdemokratische Konzept eines Zusammenspiels zwischen öffentlichen Infrastrukturmaßnahmen, staatlicher Industrie- und Strukturpolitik, privaten Unternehmensinitiativen bei gleichzeitiger sozialpolitischer Flankierung gehört nicht der Vergangenheit an, sondern ist das Zukunftsmodell schlechthin, nicht nur für den Aufbau der neuen Bundesländer, sondern für die Umstrukturierung Osteuropas insgesamt. Ohne eine entsprechende Infrastruktur werden kaum nennenswerte Unternehmen im Osten investieren. Wobei man bei der Infrastruktur, vor allem bei der Verkehrspolitik, nicht jede westliche Fehlentwicklung nachvollziehen muß.
Zu einer ausgewogenen Wirtschaftsstruktur wird es nicht kommen, wenn es nicht in den neuen Ländern auch zu einer industriellen Produktion und zu eigenständigen Unternehmen kommt. Ohne dies wäre die Alimentation des Ostens durch die alten Bundesländer auf Dauer festgeschrieben. Das wollen die Menschen in den neuen Bundesländern am allerwenigsten. Die sozialpolitische Flankierung verhindert, daß die in der Übergangszeit besonders große Zahl der aus dem Produktionsprozeß Ausgegrenzten in der Massenarmut landen. Dieser Punkt ist bei aller Kritik an der Bundesregierung bislang noch am erfolgreichsten umgesetzt worden.
Die sozialdemokratische Idee der Beschäftigungsgesellschaft, einst von Konservativen und Wirtschaftsliberalen als sozialistisches Marterwerk verteufelt, wird heute zum beschäftigungspolitischen Strohhalm der Regierung. Das gleiche gilt für die offensive Anwendung der Instrumente des AFG, vor allem für AB- Maßnahmen. Die Angst vor sozialen Unruhen und Legitimationsverlusten dürfte hier sicherlich ausschlaggebend sein. Nicht nachvollziehbar ist vor diesem Hintergrund der Vorwurf Hausmanns, die SPD gehe die Probleme in den neuen Ländern mit alten Antworten an. Wenn ich mich über etwas ärgere, dann darüber, daß die Regierung in einigen Bereichen schamlos sozialdemokratische Vorstellungen als ihre eigenen Ideen verkauft.
Was fehlt, ist die andere Seite der Medaille, die seriöse und sozial gerechte Finanzierung dieses Prozesses. Bislang hat sich die Bundesregierung durchgemogelt über eine exorbitante Erhöhung der Staatsverschuldung, Nebentöpfe eingeschlossen, das Abkassieren bei der Bundesbank und durch Steuer- und Beitragserhöhungen. Dabei hat vor allem der FDP-Teil der Regierung dafür gesorgt, daß ihre Klientel von Belastungen weitgehend verschont blieb, beziehungsweise mit zusätzlichen Vorteilen bedient wurde. Wenn dann Hausmann schreibt, „die Notwendigkeit der Gerechtigkeit sei weggefallen“, dann klingt dies geradezu zynisch in den Ohren einer wohnungssuchenden alleinerziehenden Mutter. Wenn die Mehrwertsteuer erhöht wird und gleichzeitig Unternehmer 4,5 Milliarden Steuererleichterung erhalten, dann ist dies eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Richtig ist, daß das sozialdemokratische Politikparadigma der sozial gerechten Verteilung der Zuwächse in einer Zeit, in der es nichts mehr zu verteilen gibt, keine Fortsetzung erfahren kann. Umgekehrt gilt aber, daß das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit gerade dann zentral ist, wenn in den Bestand eingegriffen werden muß. Die SPD hätte ihre Daseinsberechtigung verloren, wenn sie sich in dieser Zeit nicht zum Gralshüter des Prinzips sozialer Gerechtigkeit machen würde.
Die Wahlergebnisse vom 5.April 1992 bestätigen mich in der Auffassung, daß die SPD bei allen Bemühungen um die Verbreitung ihrer Wählerbasis die Interessenvertreterin der sozial Verängstigten und Benachteiligten bleiben muß. Modernisierung der SPD hat für mich immer geheißen, neue Brücken aufzubauen und nicht, alte abzureißen. Eine Modernisierung, die zwischen alten und neuen sozialen Gruppierungen wählen müßte, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Hausmann hat insofern recht, wenn er meine Wahl zum Bundesgeschäftsführer der SPD als eine Umkehr der Auseinanderentwicklung von SPD und Gewerkschaften begreift, aber er irrt, wenn er darin ein Ende der Modernisierung der SPD sieht. Daß die Verteilungsfragen, vor denen wir in Deutschland stehen, sich nur zum Teil innerhalb der klassischen Verteilungsfrage abspielen, braucht man allerdings weder Björn Engholm noch Franz Steinkühler zu erklären. Karl-Heinz Blessing
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