Standbild: Leben als Rechtsfall?
■ "Wie würden Sie entscheiden?", Mi., 21Uhr, ZDF
Wie würden Sie entscheiden?“ Die 100. Sendung war die erste, die ich gesehen habe, und sie wird die letzte sein: Warum soll ich mich quälen, indem ich fernsehe?
Fälle, die das Leben geschrieben hat und die von Gerichten rechtskräftig entschieden wurden, will die Sendung in leicht verdaulicher Form nachstellen. Ein „Volljurist“ moderiert und erklärt, und ein proporz- verlesenes Volkshochschulpublikum, gleichsam der ideelle Gesamtrechtssuchende, diskutiert bierbrav über die vorgegebenen Fragen. Über allem thront ein Experte, in der 100. Sendung ausgerechnet der als Geheimdienstchef gescheiterte Conterpart von Markus Wolf, der Geheimdienstler im Ministeramt Klaus Kinkel, und salbadert über Recht und Gerechtigkeit. Die auflockernde, nachgestellte Gerichtsverhandlung ist eindeutig langweiliger als Gerichtsverhandlungen im wirklichen Leben. Denn: im Fernsehen ist Rechtsprechung ein Produkt vernunftbegabter, offen und ohne jeden Hintersinn argumentierender, schauspielerhaft agierender Beteiligter. Im wirklichen Leben geht es menschlicher zu: Da wird beschissen und herrscht Niedertracht, da werden Tricks angewandt...
Nehmen wir den Fall der 100. Sendung: Ein alleinstehender, sauberer junger Mittelständler hat einen achtjährigen unehelichen Sohn. Dessen Mutter ist zwischenzeitlich mit einem ebenso sauberen, jungen Bankangestellten verheiratet, dem sie ein eheliches Kind gebiert. Der Bankangestellte nun möchte den unehelichen Sohn adoptieren, um so „eine richtige Familie zu werden“. Die Mutter stimmt dem zu, der biologische Vater ist dagegen. Vorgeführt wird die Gerichtsverhandlung: In dieser ist viel von der gesunden Kleinfamilie die Rede, die angeblich das Kindeswohl fördert. Es kommt eine Vertreterin des Jugendamtes zu Wort und befürwortet die Adoption, denn sie hat den Jungen befragt, und der hat ihr erklärt, er wäre schon gerne Mitglied einer „richtigen“ Familie. Der blutsverwandte Vater hat gegen soviel Sucht nach Kleinfamilie, Jugendamt, Gesetz und Gericht keine Chance, die Adoption findet statt, und seine verwandtschaftlichen Bindungen zum Kind werden juristisch vernichtet. Was die Sendung nicht zeigt: Das Kind wird von dem familiensüchtigen Bankangestellten und seiner Mutter monatelang belegt worden sein, damit er dem Jugendamt erzählt, was es hören will. Dem Achtjährigen werden Lebens- und Sozialmuster eingetrichtert worden sein, die es ihm begehrenswert erschienen ließen, in einer „richtigen“ Familie zu leben.
Also: wer diese Sendung sieht, wird sich nicht vorstellen können, wie es vor Gericht zugeht. Er erliegt einer Fiktion, und man kann ihm nur wünschen, daß er durchs Leben nicht eines Besseren belehrt wird. Jony Eisenberg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen