Italiens Machtkartell am Rotieren

Regierungsbildung nach den Neuwahlen schwieriger denn je/ Saubermänner an die Front?  ■ Aus Rom Werner Raith

So schön haben Italiens Wähler ihre Regenten noch nie in Verlegenheit gebracht: Wen hatten sie schon alles ins Parlament geschickt, verurteilte Attentäter und putschistische Generäle, Pornostars und Ohrfeigen austeilende Showmen — alles hat die vornehme Volksvertretung ohne Verdauungsbeschwerden geschluckt. Doch nun, wo zum ersten Mal jene Paradiesvögel fast ganz fehlen, läuft die vereinte Machterhaltungsmaschinerie einfach nicht mehr weiter. Obwohl die bisherige Vierparteienkoalition — Christ- und Sozialdemokraten, Sozialisten und Liberale— numerisch in Abgeordnetenhaus und Senat noch eine dünne Mehrheit hätten, erklären ihre führenden Köpfe die Formel als „erschöpft“. Ministerpräsident Andreotti, der am kommenden Freitag unmittelbar nach der Konstituierung der beiden Häuser und der Wahl ihrer Präsidenten zurücktreten wird, ist in Tauchstellung gegangen. Staatspräsident Francesco Cossiga kündigt jeden Morgen seinen eigenen vorzeitigen Rücktritt an, um ihn für die Mittagsmeldungen wieder zu dementieren und am Abend erneut in Aussicht zu stellen. Die Vorsitzenden der politischen Parteien hüllen sich in Schweigen und lassen ihre Stellvertreter Bauchreden halten. Keiner traut keinem, aber offenbar hat auch niemand so recht ein Konzept, wie es weitergehen soll.

Bis auf einen: den christdemokratischen Abgeordneten Mario Segni aus Sardinien, 52. Er ist unbestritten der neue Star der italienischen Politik. Im vorigen Jahr hat er eine Volksabstimmung zur Abschaffung der Stimmenhäufung durchgebracht, gegen den Widerstand seiner eigenen Partei und der mitregierenden Sozialisten; vor den Wahlen hat er Kandidaten quer durch alle Parteien zu einem sogenannten „Referendumspakt“ zusammengeschweißt. 130 davon sind ins neue Parlament eingerückt. Seither hat „Mr. Saubermann“ vollends abgehoben: 'L'Espresso‘ brachte ihn auf der Titelseite als „Superman“ dar, 'la Repubblica‘ und 'la Stampa‘ loben ihn tagtäglich, selbst 'il manifesto‘ von ganz links findet ihn „nicht unübel“. So aufgepäppelt, teilte Segni vorige Woche mit, er werde für das Amt des Regierungschefs kandidieren.

Das brachte die schon wirren Verhältnisse vollends durcheinander. Segnis Christdemokraten hielten sich die Ohren zu und sagten erst mal gar nichts. Die Sozialisten drehten sich angewidert weg: sie hatten den Mann im Vorjahr aus der Verfassungskommission vertrieben, und zwar, da man ihm keine Affären anhängen konnte, mit Hilfe von Dossiers über seinen 1972 verstorbenen Vater, der 1964 das Amt des Staatspräsidenten nach einem Gehirnschlag vorzeitig abgegeben hatte.

In Schwierigkeiten geriet auch die KP-Nachfolgeorganisation „Partito democratico della sinistra“ (PDS): Ihr Vorsitzender Occhetto und der Großteil der Fraktion hat zwar den „Referendumspakt“ unterschrieben, doch einen Christdemokraten wollten sie nicht, selbst wenn er Segni heißt. Außerdem hat der Selbstkandidat versprochen, vor allem Technokraten in sein Kabinett zu berufen und keine Parteichefs oder deren Abgesandte — für die PDS eine mittlere Katastrophe: Da steht die Partei nach vier Jahrzehnten Opposition erstmals ganz nahe am Regierungseintritt — ohne sie läßt sich schwer eine stabile Mehrheit denken —, und ausgerechnet da sollen verdiente Genossen von Amt und Würden ausgeschlossen sein?

So sind derzeit nur kleinere Fraktionen für Segni: Die Grünen können sich einen Regierungseintritt unter ihm genauso vorstellen wie die gegen Mafia und Korruption angetretenen „Rete“ des ehemaligen palermitanischen Bürgermeisters Orlando. Auch die industrienahen Republikaner sehen in einer Technokraten-Regierung „zumindest auf Zeit“ (so PRI-Chef La Malfa) die „einzig sinvolle Form einer Administration, die eine neue Ära der Demokratie eröffnen könnte“. In dieser konfusen Situation sollen Abgeordnetenhaus und Senat nun am kommenden Donnerstag ihre Vorsitzenden wählen. Üblicherweise sind diese Ämter bereits Teil des künftigen Regierungs- und Oppositionspuzzles. Doch da niemand weiß, wie das ausgeht, gibt es auch noch keinerlei Klarheit über die Präsidentschaft der Hohen Häuser. Die Christdemokraten, seit langem nicht mehr mit einem der beiden Ämter versehen, reklamieren eines davon für sich; doch die Republikaner, deren ehemaliger Chef Giovanni Spadolini bisher Senatspräsident war, wollen ihren Posten behalten. Andererseits möchten auch die ehemaligen Kommunisten ihren seit drei Legislaturperioden gewärmten Vorsitz im Abgeordnetenhaus offiziell nicht abgeben — oder vielleicht doch? Intern nämlich gibt es bereits Zerreißproben: Nilde Jotti, Renommierfrau der Partei, will weiter präsidieren, doch der rechte Flügel der PDS reklamiert den Stuhl nun für ihren Obmann Giogio Napolitano. PDS-Chef Occhetto wäre es darum gar nicht so unrecht, wenn ihm die Präsidentschaft abhanden käme — wenn ihm die anderen Parteien dafür den so lange ersehnten Zutritt ins Allerheiligste der Ministerämter garantieren würden.