: Poesie ist, wenn's sich trotzdem reimt
■ Die Ausstellung »Poesiealben aus zehn Jahrzehnten« im Nachbarschaftshaus Lietzensee
Auge um Auge, Zahn um Zahn, das ist 'ne Freundschaft für immer ungebrochen«, schrieb Anke, kurz bevor ihre Mutter starb und sie auf Nimmerwiedersehen zu ihrer Tante in eine andere Stadt zog, in mein Poesiealbum. Die Schrift ist krakelig, Tintenkillerspuren zeugen von den orthographischen Unsicherheiten der Schreiberin. Mit dem Klebstoff ist Anke so großzügig umgegangen wie mit den Glanzbildchen: Nicht nur ihre beiden Seiten, sondern auch die vorangegangenen und folgenden Blätter pappten nach ihrem Eintrag aneinander. Was mich im zarten Alter von acht Jahren sehr verärgert hat, ruft mir heute die kleine, stämmige, stets etwas schlampige Anke um so deutlicher in Erinnerung. Sie, mit der ich seinerzeit unzählige Baumbuden baute und — wenn wir uns nicht gerade prügelten — verbotene Lagerfeuer machte, hat letztlich mehr von ihrer damaligen Persönlichkeit in mein Album eingeschrieben als all die anderen Schulfreundinnen, die sich um eine schöne Schrift und akkurat eingeklebte Bildchen bemühten und die sich so den allgemeinen Poesiealbengestaltungsnormen unterworfen haben.
Das Design der kleinen Büchlein hat sich im Laufe des letzten Jahrhunderts im Grunde nur recht wenig verändert: Der Text kommt in möglichst ordentlicher Schrift auf die rechte Seite und wird, je nach Geschmack und Möglichkeiten, eventuell durch ein oder mehrere Glanzbildchen oder Zeichnungen auf der linken Seite ergänzt.
So jedenfalls präsentieren sich fast alle Alben, die seit dem 1. April im Rahmen einer Poesiealbenausstellung im Nachbarschaftshaus und Seniorenzentrum am Lietzensee zu sehen sind. Bleibt das Schema auch konstant, ändert sich doch die Ausführung, wird die altdeutsche Schrift in den dreißiger Jahren vom Sütterlin und nach dem Krieg von der heutigen Schrift abgelöst. Der weniger betagten Besucherin gibt vor allem erstere Rätsel auf: Obwohl in allen Fällen mit einer Regelmäßigkeit ausgeführt, die heutige Schönschreiblehrerinnen vor Neid erblassen lassen würde, sperrt sich die altdeutsche Schrift gegen eine Entzifferung durch Uneingeweihte. Die Veranstalterin Marion Scholz und ihre HelferInnen, die dieses Problem vorausgesehen haben, bieten deshalb gleich auch einen begleitenden Lesekurs an beziehungsweise lesen mit nachsichtigem Lächeln denen die Texte vor, für die der Sinn hinter den Schriftzeichen im Verborgenen bleibt.
Die derart zutage tretenden Inhalte erweisen sich dann häufig als erstaunlich zeitlos und langlebig — manche der Standardsprüche haben die Jahrzehnte überlebt und finden sich in Poesiealben aus den siebziger Jahren noch genauso wie in denen der zwanziger. Andere Sinnsprüche spiegeln dagegen den Geist ihrer Zeit. Insbesondere die nationalsozialistische Ideologie dokumentiert hier ihren Einzug ins Private: Nicht nur, daß die Freunde den Kameraden weichen mußten — manche der Botschaften aus dieser Zeit weisen auch deutlich deutschnationale Züge auf. Sie fordern zum Beispiel, Hitler zitierend, dazu auf, die eigenen Bedürfnisse dem Imperativ des Volkswohls unterzuordnen, oder stellen so abstruse Behauptungen auf wie folgender Merkspruch aus dem Jahre 1935:
Ich will/ Das Wort ist mächtig
Ich soll/ Das Wort wiegt schwer.
Das zweite spricht der Diener,
Das erste sprach der Herr.
Es gibt nichts Schöneres auf Erden
Als wollen, was man soll.
Erstaunlich ist immer wieder der hohe Moralinsäuregehalt der Botschaften nicht nur aus der Kaiser- oder Nazizeit. Vor allem die lieben MitschülerInnen zeichnen sich bisweilen durch einen ausgeprägten Hang zum erhobenen Zeigefinger aus. Vom Hinweis, daß »des Mädchens Kleinod die Tugendhaftigkeit« sei, über die schlichte Aufforderung »Bete und arbeite«, die einer der Tagebuchbesitzer gleich zweimal kassierte, bis zur Drohung — wohlgemerkt, aus den sechziger Jahren! —, daß die Adressatin ihrer Mutter schon nachtrauern werde, wenn diese eines Tages gestorben ist, reichen die Frohsinn und Lebenslust verbreitenden Aussagen.
Ermunterungen oder gar Spaßverse, wie der russische Spruch, mit dem sich ein Offizier der Roten Armee wenige Monate nach Kriegsende im Tagebuch eines fünfzehnjährigen deutschen Flüchtlingsmädchen verewigte, sind deutlich in der Minderheit. Die Geschichte hinter dieser Eintragung erfahre ich zufällig von der Schwester des Mädchens: Der Offizier war um einen Erinnerungsspruch gebeten worden, weil er die beiden Schwestern vor Vergewaltigungen durch seine Soldaten beschützt hatte.
Derartige Hintergrundinformationen liefert die Ausstellung, die, um einen Kontakt zu den LeihgeberInnen zu gewährleisten, bewußt im bescheidenen Rahmen gehalten wurde, leider nicht. Dazu bedarf es dann schon des in den vielen Alben so oft beschworenen Glücks — des Glückes nämlich, gerade die Besitzerin anzutreffen, deren Album das eigene Interesse geweckt hat. Sonja Schock
Die Ausstellung ist noch bis Ende des Monats montags, dienstags, donnerstags und freitags von 12 bis 18 Uhr im Nachbarschaftshaus/ Seniorenzentrum am Lietzensee, Herbartstraße 25 in Charlottenburg zu sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen