Frühjahr »outet« Allergiker

■ Bei wie vielen die Nasen laufen und die Augen tränen, weiß niemand/ Doch eines ist sicher: es werden immer mehr/ Studien geben eher Anlaß zum Streiten als zu schnellem Handeln

Es fällt kaum auf, wenn der Arbeitskollege oder gute Bekannte keinen Fisch ißt oder Jeans ohne Nickel-Knopf trägt. Doch mit dem Beginn des Frühjahrs, wenn der erste warme Wind Gräser und Pollen durch die Lüfte wirbelt, werden sie »geoutet« — die Allergiker. Wundgeriebene Augenlider können sie vielleicht noch hinter Sonnenbrillen verstecken, doch spätestens die triefende Nase läßt sich nicht mehr übersehen. Wie viele Menschen darunter leiden, daß ihre Immunabwehr auch dann Alarm schlägt, wenn gar nichts los ist — also allergisch reagiert — weiß keiner so ganz genau. Auch mangelt es bisher an der genauen Erforschung der Ursachen von Allergien. Haben die Autoabgase schuld? Oder gar die Naturkosmetik? Oder Streß? Oder einfach alles? Unbestritten ist nur, daß die Zahl derjenigen, die auf den Verzehr von geblichenem Mehl genauso verzichten müssen wie auf die Auslegeware — weil Hausstaub in beiden Fällen Husten provoziert — größer wird.

Friedrich Nürnberger, Vorsitzender des Berufsverbandes der Berliner Dermatologen, schätzt daß jeder zehnte Berliner auf irgendetwas allergisch reagiert. Diese Gruppe werde größer, glaubt der Hautarzt. Jeder Fünfte sei betroffen, nimmt dagegen Gert Kunkel an, Leiter der Abteilung für klinische Immunologie in der Uni-Klinik Rudolf-Virchow im Wedding. Diese Schätzung schließe alle Formen von Allergien ein. Eine Schweizer Studie sei zu dem Schluß gekommen, daß sich die Zahl der Allergiker in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt habe. Die Ursachen würden viel diskutiert, insbesondere die Rolle der Umweltverschmutzung, aber Genaues weiß man nicht, berichtet der Professor.

Den Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) fehlt ebenfalls der Durchblick. Wie viele Pflichtversicherte sich jedes Frühjahr eine Anti- Heuschnupfen-Spritze in die Vene stechen lassen, weiß AOK-Sprecher Friedrich Abraham nicht. Aber man habe eigens für die Allergie-Forschung ein Institut gegründet. Jährlich werde in dem Institut für Atmungstherapie ein Stamm von 400 Patienten informiert und therapiert, sagt Leiterin Dürthen Geißler. Sie berichtet, daß nach dem Ergebnis von Befragungen das Immunsystem bei einem Viertel aller Erwachsenen und bei 40 Prozent aller Kindergartenkinder übersensibel reagiere. Die Erkenntnis, daß diese Zahlen steigen, hänge nicht nur damit zusammen, daß mit Hilfe der Immunforschung Allergien immer besser diagnostiziert werden könnten.

Auch Kuhmilch kann Allergien erzeugen

Allergien »erwirbt« man nicht nur im Laufe seines Lebens, man kann sie auch genetisch in die Wiege gelegt bekommen. Wenn ein Elternteil an der Überempfindlichkeit leide, wird mindestens einer von acht Nachkommen ebenfalls leiden müssen. Reagieren beide Elternteile allergisch, wird ein von zwei Kindern leiden müssen, weiß Geißler. Dabei sei es völlig egal, auf was die Eltern allergisch reagierten. Besonders tragisch findet Geißler Nahrungsmittelallergien. Beispielsweise könnten zwei bis acht Prozent aller Kinder bis zum 10. Lebensjahr keine Kuhmilch vertragen. Und nicht bei allen verschwinde das Problem. Jedes 100. von ihnen müsse die Milch-Aversion bis ans Lebensende ertragen.

In der Allergieforschung gebe es bisher keine konkreten Ergebnisse, weil die in Gang gesetzten epidemologischen Studien noch lange nicht abgeschlossen seien, sagt Gisela Frank, Referentin für Medizinforschung im Bundesministerium für Forschung und Technologie. Ihr Ministerium habe für die Zeit von 1987 bis 1994 60 Millionen Mark für Allergiearbeiten bereitgestellt. Projekte werden unter anderem in Freiburg, München, Leipzig und Berlin finanziert. Bekannt sei bisher, daß Pollen durch Schadstoffe klebriger und agressiver würden — also in Großstädten. Doch dort, wo die Schadstoffbelastung besonders hoch sei, gebe es weniger manifeste Allergien, dafür häuften sich Krankheiten wie Bronchitis und Lungenentzündungen. Die Zahl nehme in den neuen Bundesländern zu und in den GUS-Staaten steige sie im Vergleich zur Bundesrepublik noch einmal erheblich.

Wenn es aber doch einmal Untersuchungen gibt, sind sie eher Anlaß zu Streit als zum Handeln. In einer Befragung von 512 Charlottenburger Schülern der 3. Klasse kam am Jahresende das Gesundheitsamt zu dem Schluß, daß vor allem die Schadstoffe des Autoverkehrs Allergien auslösten. Auf eine Verringerung des Autoverkehrs dränge die Gesundheitsverwaltung auf Grund der Untersuchung aber nicht, sagte damals Sprecherin Gabriele Lukas. Denn der Zusammenhang zwischen Abgasen und Allergien sei gar nicht untersucht worden. Umweltstaatssekretär Lutz Wicke (CDU) meinte, daß im Verkehr keine spürbaren Eingriffe in den kommenden zwei Jahren vorgenommen werden könnten, selbst wenn ein Zusammenhang zwischen Krankheit und Auspuffqualm nachgewiesen würde.

Bleibt für die Betroffenen nur der Gang zum Arzt — obwohl der auch nicht alle Allergien erkennen kann. In diesem Fall können dann nur noch Initiativen wie die »Arbeitsgemeinschaft allergiekrankes Kind«, »Allergie- und umweltkrankes Kind« oder der »Allergie- und Astmathikerverband« helfen. Vor allem hilft den Allergikern der Erfahrungsaustausch, berichtet Inge Broschat vom Verein. Jeden ersten Mittwoch im Monat treffen sich im Wilmersdorfer Gesundheitsamt fünf bis 20 geplagte Heuschnupfennasen. Dirk Wildt