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Europa: Grüner Abschied von der reinen Lehre

■ Im Hamburg diskutierten deutsche Grüne über ihr Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft

Hamburg (taz) — Schreckgespenster geisterten am Donnerstag durchs Hamburger Rathaus, wo Grüne aus deutschen Landen ihr Verhältnis zu Europa beratschlagten. Die Angst vorm Großstaat mit europäischer Polizei und europäischer Armee, der neuen Kolonialmacht Europa, Euronationalismus auf einer abgeschotteten Wohlstandsinsel wurden laut — aber auch ein „donnerndes Ja“ zu Europa. Und es ging um Formfragen: Zentralstaat oder Konföderation?

Die grünen Landtags- und Europaabgeordneten hatten unterschiedliche Rezepte und Prognosen für die Europäische Gemeinschaft. Das donnernde Ja kam von Ulrike Riedel. Die hessische Staatssekretärin für Bundesangelegenheiten empfahl den grünen Internationalisten, denen die kleinen Einheiten bisher eher fern gelegen hätten, für Europa „sinnvollen Föderalismus“. Regionen und Länder müßten „immer mitschwimmen“ und auf den europäischen Prozeß Einfluß nehmen. Der deutsche Föderalismus wäre als Modell für Europa diskutabel, so die Juristin.

Das „Europa der Regionen“ ist dagegen für Reinhard Bütikofer ein grünes Schlagwort ohne Bedeutung. Der Stuttgarter Landtagsabgeordnete fragt sich, an welchen „Beheimatungen“ man sich zukünftig orientieren könne und wie sich denn eine Region in Europa definieren soll. Gibt es dann zusammenhängende Landschaftsräume auch über nationale Grenzen hinweg? Trotz drohender Heimatlosigkeit hofft er auf Stärkung der Basis durch EG-Föderalismus. Die Regionen müßten sich zu Aktionsbündnissen zusammenschließen, fordert Bütikofer, angesichts der „fantastischen Prognosen“ für die zukünftige Verkehrsbelastung von Baden-Würtemberg beispielsweise.

„Wir bleiben Deutsche auch in der europäischen Integration. Wir können da nicht raus“, befürchtet Frieder Wolf, auch wenn ihm als Alt-68er die Auflösung der Nationen gefallen würde. Er mahnt die Verantwortung der reichen Länder für den Osten an und kritisiert, daß grüne Alternativen nur aus Krisensituationen herauswachsen — „je schlimmer desto besser“. Die europäische Eingung sei aber ein Bündel von Formfragen, die die Grünen traditionsgemäß wenig schätzten — eine angesichts Demokratieverdrossenheit und rechtsradikaler Tendenzen europaweit nicht mehr vertretbare Haltung, so Wolf. Auch Wolfgang von Nostiz fordert, „im Anblick der neuen nationalistischen Gefahren in Europa müssen die Grünen eine andere Rolle spielen als Heckenschützen oder Zaunkönige“.

Die EG müsse sich für Gesamteuropa öffnen, fordert Nostiz. Als gesamteuropäische Gemeinschaft sei sie aber derzeit nicht tauglich. Für den Beitritt von Staaten anderer wirtschaftlicher Entwicklungsstufen müßten andere Vertragsziele als die reine Handelsfreiheit her.

„Als Grüner unterscheidbar im Chor der Europafreunde“ will dagegen Udo Knapp sein, er vermißt beim donnernden Ja zu Europa die grüne Position. Der sächsische Landtagsabgeordnete Martin Böttger (Bündnis 90/Grüne) kann sich keine gesamteuropäische Kultur vorstellen, „nur eine sächsische“ und die Europaabgeordnete Eva Quistorp empfiehlt den Genossen dringend, die „deutsche grüne Brille“ abzulegen. Sie vermutet, daß es für viele Grüne die EG eigentlich gar nicht geben darf, „weil sie so reich ist und so abgeschottet“. Vera Stadie

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