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Ein Akt des Respekts

Die Ruhe der Toten auf dem jüdischen Friedhof in Hamburg-Ottensen muß endlich gesichert werden. Zukunftsorientierte Kräfte sollten dies mit uns zusammen tun, offen, mutig, ehrlich und klar  ■ VON SIGMUND NISSENBAUM

Was sich in Hamburg- Ottensen abspielt, macht mich tief betroffen. Statt in Gemeinsamkeit dafür zu sorgen, daß die Ruhe der Toten auf dem jüdischen Friedhof endlich gesichert wird, ist ein Streit entbrannt, dessen Ende nicht abzusehen ist.

Mit voller Absicht spreche ich nicht von einem „ehemaligen“ jüdischen Friedhof. Denn nach dem jüdischen Religionsgesetz ist und bleibt ein Friedhof das Eigentum der Verstorbenen. Orthodoxe Rabbiner, Persönlichkeiten und Gelehrte, die für jüdische und deutsche Geschichte eine große Bedeutung hatten, fanden in Ottensen ihre letzte Ruhe. Es ist die vornehme und selbstverständliche Pflicht der Nachfahren, dieses Eigentum zu schützen und zu pflegen. Ich sage das als Oberhaupt einer Familie, die es sich mit einer im Jahre 1983 ins Leben gerufenen Stiftung zum Ziel gesetzt hat, jüdisches kulturelles Erbe zu retten, wieder sichtbar zu machen und zu pflegen.

Diese Stiftung der Familie Nissenbaum widmete sich zunächst den Spuren der kulturellen Hinterlassenschaft in Polen, meiner Heimat. Dank der Unterstützung der polnischen Regierung und dank der Hilfe aus aller Welt ist es mittlerweile gelungen, das Vernichtungswerk der deutschen Nationalsozialisten wenigstens teilweise rückgängig zu machen. Es wurden in Polen bis heute mehrere Dutzend Friedhöfe rekultiviert, zerstörte Synagogen wieder aufgebaut, Bibliotheken, Museen und Gemeindezentren zu neuem Leben erweckt. Ich weiß also, wovon ich spreche, wenn ich mich dafür einsetze, einen jüdischen Friedhof vor der Beseitigung zu bewahren. Und angesichts dessen, was hilfsbereite Menschen in aller Welt dazu beigetragen haben, jüdisches Erbe in Polen vor der Vergessenheit zu bewahren, kann ich den Widerstand gegen die Wiederherstellung des jüdischen Friedhofs in Hamburg-Ottensen nur als Hohn empfinden und als gefährlichen Irrtum ansehen.

Das Andenken unserer Vorfahren wahren

Die Auseinandersetzung wird nach meiner Überzeugung absolut falsch geführt. Die Frage, ob der „ehemalige“ Friedhof zu bewahren ist oder nicht, steht nach dem jüdischen Religionsgesetz gar nicht zur Debatte. Selbst der sonst geschätzte und hochverdiente Zentralratsvorsitzende Heinz Galinski und der ehrwürdige Rabbiner Nathan B.Levinson (er als liberaler Rabbiner kann über verstorbene orthodoxe Juden, die dort beerdigt wurden, keine Entscheidung treffen) verharren auf schwankendem Boden in der falschen Ecke, wenn sie es für möglich halten, daß die Grabstätten wegen der „unwürdigen Umgebung“ verlagert werden könnten. Das hieße, religiöse Gesetze auf den Kopf zu stellen, wo es doch darum geht, für die Würde der Grabstätten und der dort Begrabenen zu sorgen. Und niemand sage, das sei nicht möglich.

Am materiellen Ausgleich darf die Sicherung und Rekultivierung des jüdischen Friedhofs von Hamburg-Ottensen keinesfalls scheitern. Gerade angesichts der jüngsten Wahlerfolge rechtsradikaler politischer Gruppierungen ist es sehr dringend nötig, die Konsensfähigkeit der staatlichen, der wirtschaftlichen und der kulturellen Kräfte zu beweisen. Das heißt in diesem Falle: Keine Diskussion mehr um die Frage, ob der Friedhof zu retten ist, sondern ausschließlich darum, wie dies am besten zu erreichen ist und wie die heutigen Besitzer entschädigt werden können. Wenn der Hamburger Senat, die Bonner Regierung und die Juden Deutschlands, unterstützt von Freunden in aller Welt, zusammen helfen, wird eine befriedigende Lösung zu finden sein. Und eben dadurch — und nur dadurch — würde jenen Unverbesserlichen der Wind aus ihren antisemitischen Segeln genommen.

Selbstverständlich wäre es schön, wenn die jüdische Gemeinde von Hamburg ihren Friedhof in Hamburg-Ottensen vor 42 Jahren nicht verkauft hätte. Es ist meines Wissens ein einmaliger Fall. Ich bitte jedoch zu bedenken, daß damals auch die Hamburger Juden, das heißt, das kleine Häuflein, das der deutschen Vernichtungsmaschinerie entgangen war, von mehr als verständlichen Ermüdungserscheinungen nicht verschont geblieben war. Ich habe als Junge im Warschauer Ghetto gekämpft, habe das Grauen der Konzentrationslager und, als 16jähriger, die Ermordung meiner Eltern und Geschwister miterleben müssen. Es kann sehr schwer werden, an Gott und der Religion nicht zu verzweifeln; zu irren kann in der Tat sehr menschlich sein. Und wir sollten heute nicht damit Zeit verschwenden, die Mißachtung religiöser Gesetze durch den Hinweis auf einen Irrtum sanktionieren zu wollen.

Im Gegenteil! Wir, die wir überlebt haben, sind heute und immer in besonderem Maße dazu aufgerufen, das Andenken unserer Vorfahren zu bewahren. Und mit uns sollten alle zukunftsorientierten Kräfte Deutschlands ein Vorhaben unterstützen, das jüdischer Religion und Kultur den gebotenen Respekt entgegenbringt. Diese Unterstützung sollte nicht hinter den Kulissen gewährt werden, sondern offen und mutig, ehrlich und klar.

Die Proteste endlich ernst nehmen

Die Diskussion um scheinbar aufgeklärte Handlungs- und Verhaltensweisen einerseits und traditionelle Werte andererseits sind in vielen bedeutenden Religionen im Gange. Solche Diskussionen sind wichtig. Diese Auseinandersetzungen, die häufig reinigenden Charakter haben, werden manchmal für den eigenen Vorteil ausgeschlachtet und deshalb mißdeutet. So könnte es zu der irrigen Annahme kommen, einem gläubigen Juden wären die Grabstätten seiner Vorfahren nicht heilig. Tatsächlich ist daran nicht zu rütteln: Der Friedhof ist ein globales Heiligtum, heiliger als die Synagoge, und im Talmud werden die Gebeine des Toten dem Heiligtum der Tora gleichgestellt. Trotz zivilgerichtlicher Entscheidungen halten wir diese Gerichte in religiösen jüdischen Angelegenheiten für nicht kompetent, sondern allein nur die Rabbiner-Konferenz.

Die zahlreichen Proteste gegen die drohende Beseitigung des jüdischen Friedhofs in Hamburg-Ottensen sind ein Hinweis darauf, wie ernst diese religiösen Gesetze genommen werden. Und wer würde den elf Mitgliedern des US-amerikanischen Senats, die am 16.April deswegen eine Botschaft an Bundeskanzler Kohl sandten, einen überzogenen Traditionalismus vorwerfen wollen! Doch die Proteste kommen keineswegs nur von außen. Eine Kommission hat im Auftrag der Rabbiner-Konferenz in Deutschland vom 3.November 1991 ein Gutachten vorgelegt, das zwingend und in aller Klarheit die Sicherung des jüdischen Friedhofs in Hamburg-Ottensen fordert.

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