ESSAY: Verlust der Mitte
■ Mit Genscher geht die Stabilität in Bonn in den vorläufigen Ruhestand
Die Frage des ideologischen Überbaus der bundesdeutschen Gesellschaft wird gemeinhin mit Schlagworten wie soziale Marktwirtschaft, demokratischer Pluralismus, westliche Wertegemeinschaft etc.pp. beschrieben. In einer Analyse der Bonner Republik kam Hans-Magnus Enzensberger zwei Jahre vor dem Fall der Mauer zu einem weniger prestigeträchtigen Ergebnis: das Land werde beherrscht durch die Diktatur des Mittelmaßes. Dabei artikulierte sich ein Unbehagen, das sicher auch biographisch bedingt ist. Ein Intellektueller beschreibt einen Zustand fehlender Extravaganzen als langweilig, den andere gerade als wohltuend empfinden. So ging denn auch Enzensberger richtigerweise davon aus, daß sich die Deutschen-West im Zustand des Mittelmaßes genau richtig untergebracht sehen. Man hat sich eingerichtet und ist es zufrieden.
Übersetzt in den bundesdeutschen Politjargon, heißt die Beschreibung dieses Zustandes „Politik der Mitte“. Das Heil eines bundesdeutschen Politikers kam aus der Mitte, und dort wollten auch fast alle hin. Wahlen gewinnen konnte man mit der Repräsentanz der Mitte und dem dazugehörigen Definitionsmonopol für die Bedürfnisse der Mehrheit. All diese Symptome deuten darauf hin, daß das unausgesprochene Dogma der westlichen Nachkriegsrepublik nicht freiheitliche Demokratie, sondern Stabilität hieß. Nun ist ja Stabilität nicht per se schlecht, tatsächlich wurde aber in Deutschland das Mittel zum eigentlichen Ziel. Die, gemessen an der 18jährigen Amtszeit, kuriose Rücktrittsbegründung Genschers, Politik sei Amtsübernahme auf Zeit, löste beim Publikum keinerlei Kopfschütteln aus. Im Gegenteil: Die immergleichen Personen sind ein wesentlicher Bestandteil der Innenausstattung der Stabilität. Je länger ein Gesicht auf dem Bildschirm erscheint, um so beruhigter ist das Wahlvolk. In der Bundesrepublik ist kein Kanzler durch Wahlen abgelöst worden. In allen Fällen hat ihn entweder seine eigene Partei ausgewechselt, oder die Existenzängste der FDP waren der eigentliche Grund für den „demokratischen Wechsel“.
Vor diesem Hintergrund befindet sich die Bundesregierung tatsächlich in der Krise. Mit dem angekündigten Rücktritt Genschers reagierte in der FDP schlagartig die nackte Angst vor dem Untergang. In einer solchen Situation ist es natürlich verheerend für die Parteiführung, wenn eine große Mehrheit in der Fraktion sich für eine andere Überlebensstrategie entscheidet. Solche Fehleinschätzungen können eigentlich nur einen Rücktritt nach sich ziehen. Doch ob nun Kinkel, Schwaetzer oder Möllemann: das Problem der Partei und der Bundesregierung ist ja, daß keine der drei Personen die gewünschte Stabilität zurückbringt, weil diese nicht erst mit Genscher verschwand, sondern der Rücktritt nur das Gefühl der Instabilität verschärft.
18 Monate nach der Vereinnahmung der DDR wird nun unabweisbar, daß die alte Bundesrepublik tatsächlich tot ist, aber der stabilitätssüchtige Gemütszustand ihrer Bewohner unverändert fortlebt. Stabilität ist immer noch das erste Dogma. Doch Stabilität, das schwant den Leuten mehr oder weniger deutlich, wird von der Bundesregierung nicht mehr geboten. Jetzt rächt sich für Kohl in vielfacher Weise, daß er 1989 den Westdeutschen erfolgreich suggeriert hat, es würde sich nichts verändern. Statt über eine neue Republik, eine neue Verfassung eine neue Perspektive des Landes zu diskutieren und die Leute in diesem Prozeß mitzunehmen, wurde dem dumpfen Drang gefrönt, daß alles so bleibe, wie es immer war. Was das politische Establishment schon lange wußte, aber den Leuten nicht gesagt hat, ist nun an der Basis angekommen: die Auflösung der Blöcke, die Wiedervereinigung, die Veränderungen in Europa gehen an der Bundesrepublik nicht spurlos vorbei, werden hier keine etwas größer gewordene Insel der Stabilität übriglassen.
Aus der bewußten Irreführung entsteht die Wut, die beispielsweise zu den Wahlergebnissen in Baden- Württemberg führt: ein hoher Prozentsatz angewiderter Nichtwähler und steigender Zulauf bei den Rechtsradikalen. Im Verständnis vieler westdeutscher Wähler verschärft das derzeitige Personenkarussell in Bonn das Gefühl der Instabilität. Wenn Kohl nicht von allen guten Geistern verlassen ist, bringt er nun ganz schnell seine Kabinettsumbildung über die Bühne, um wenigstens an dieser Front Ruhe zu bekommen. Unabhängig davon aber ist abzusehen, daß der Unmut weiter wachsen wird — schon ganz einfach deshalb, weil weder Kohl noch eine andere Bundesregierung die alte BRD zurückbringen kann. Der Zeitpunkt, zu dem die Lust auf das Neue die Angst vor der Zukunft überwog, ist längst vorbei. Es wird also weitergewurstelt werden mit dem Ziel, Stabilität wenigstens auf niedrigerem Niveau wieder herzustellen. Wo die politische Einfaltslosigkeit regiert, kommt Quantität vor Qualität. Schon deshalb werden wir uns über kurz oder lang wohl auch bundesweit auf die baden-württembergische Lösung einstellen müssen: die große Koalition. Jürgen Gottschlich
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