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Peru zwischen Sendero und Armee

Die brutalste Guerilla Amerikas ist durch den Fujimori-Putsch keineswegs geschwächt  ■ AUS LIMA RALF LEONHARD

Dem institutionellen Staatsstreich des Alberto Fujimori am 5.April folgte eine Serie von Aktionen, die als strategische Schläge gegen das Gehirn und gegen die Geldbörse der maoistischen Untergrundorganisation Sendero Luminoso konzipiert waren.

Unmittelbar nach dem Putsch meldete die Polizei die Festnahme wichtiger Kader der Kommunistischen Partei Perus (PCP = Sendero Luminoso) in Sicherheitshäusern in Lima. Gleichzeitig begann die Luftwaffe die unzähligen privaten und militärischen Landepisten in der Region Alto Huallaga, dem größten Koka-Anbaugebiet der Welt, zu besetzen. Denn seit Sendero dort den Koka-Vertrieb kontrolliert, hat die Organisation eine solide ökonomische Basis, die es ihr ermöglichte, ihre Bewaffnung und ihre Logistik deutlich zu verbessern.

Der dritte Schlag richtete sich gegen die Haftanstalten Canto Grande und Castro Castro, wo etwa 600 Senderistas einsitzen. Sie verwalten dort ihre Trakte wie Festungen, in die die Behörden nicht eindringen können. Korrupte Wärter und befreundete Anwälte haben geholfen, alle Arten von Waffen, Sprengstoff und Propagandamaterial einzuschmuggeln. Die Strafvollzugsanstalten glichen großen Ausbildungslagern, wo aus Mitläufern ideologisch gefestigte Kader wurden und wo das militärische Exerzieren zum täglichen Ertüchtigungsprogramm gehörte. Sogar Attentate in der Hauptstadt sollen vom Generalstabsquartier in der Zelle geleitet worden sein.

Unmittelbar nach dem Putsch wurden die Gefängnisse militärisch abgeriegelt und die Armee schickte sich an, die wichtigsten Senderistas in andere Anstalten zu verlegen. Die Zeitung „Marka“, die vor einigen Jahren von Sendero erst unterwandert, dann als „El Diario“ zum Sprachrohr umfunktioniert wurde und schließlich im Untergrund produzieren mußte, konnte schon vorher kaltgestellt werden. Ihre Redakteure sitzen hinter Gittern.

Basisorganisationen im Schußfeld

Trotzdem halten es Sendero-Kenner für Wunschdenken, von entscheidenden Schlägen gegen die größte und brutalste Guerillaorganisation Lateinamerikas zu sprechen. Vielmehr profitiert Sendero von der Polarisierung der Gesellschaft in der Folge des Staatsstreiches und von der Militarisierung der Kriegsgebiete. Der „dritte Weg“ zwischen dem nach den Interessen der Oberschicht orientierten Staatsapparat und dem totalitären Anspruch des skrupellosen Sendero Luminoso scheint heute nicht mehr gangbar. Er wurde vor allem durch die Selbstverwaltung und autonome Selbstverteidigung in den Dörfern und durch die Basisorganisationen in den städtischen Armenvierteln symbolisiert. Berühmtestes Beispiel ist Villa El Salvador.

Villa El Salvador ist einer der in den letzten zwanzig Jahren entstandenen Vororte von Lima, die von der Stadtverwaltung euphemistisch „Pueblos jovenes“ — junge Dörfer — genannt werden. In der trostlosen Sandwüste am Nordrand der Millionenstadt ließen sich nur die Verzweifelten nieder, die woanders keinen Platz mehr fanden oder nach einer Landbesetzung vertrieben wurden, Verdrängte aus den expandierenden Nobelvierteln und Flüchtlinge aus den Kriegszonen. Heute wohnen in Villa El Salvador 350.000 Menschen, fast fünf Prozent der Einwohner von Lima. Und bis heute muß alles Trink- und Nutzwasser in Tankwagen herbeigeschafft werden. Das trübe Rinnsal des Rio Rimac, der das alte Lima von den „jungen Dörfern“ trennt, ist nicht einmal zum Wäschewaschen geeignet.

Was Villa El Salvador von den Elendsvierteln, den Tugurios, unterscheidet, ist die funktionierende Organisation. Mit der Initiative der Bewohner und Spenden ausländischer Hilfswerke wurden Kreditprogramme für Häuserbau aufgezogen, Kinderkrippen eingerichtet und „Ein-Glas-Milch-am-Tag-Aktionen“ für Kinder finanziert. Treibende Kraft waren die legalen Linksparteien, die heute die Bürgermeister und die Mehrheit in den Gemeindeverwaltungen stellen. Durch die spürbaren Verbesserungen für die Bevölkerung konnten die Infiltrationsversuche des revolutionäre Gewalt predigenden Sendero lange Zeit abgewehrt werden. „Sendero versucht, die Leute wie zu einer Sekte zu bekehren. Darum lassen sie sich nicht leicht überreden, denn wer einmal drin ist, der kann nicht mehr raus“, erklärt Maximo Vega, einer der Bezirksräte. Viele der Einwohner von Villa El Salvador sind außerdem vor der Gewalt in ihren Dörfern im Andenhochland in die Stadt geflohen.

Als die Überzeugungsarbeit nichts half, griffen die Senderistas zum bewährten Mittel der Gewalt. Am 15.Februar verschleppten sie Maria Elena Moyano, die als Bürgermeisterin von Villa El Salvador und Vorsitzende der „Glas-Milch-Aktion“ die sichtbarste Vertreterin der Basisorganisationen war, auf einer kommunalen Grillparty und schnürten ihr ein Paket Dynamit um den Leib, das sie in tausend Stücke riß.

Gegenüber der Bevölkerung verteidigt Sendero diese „Hinrichtung“ mit unbewiesenen Korruptionsvorwürfen. In Wahrheit steckt aber ein zynisches Machtkalkül dahinter: alle unabhängigen Basisorganisationen, alle NGOs, die Entwicklungsprogramme betreuen, alle politischen Parteien und selbst die marxistische MRTA-Guerilla werden von Sendero als Handlanger der Regierung und daher als Feinde betrachtet.

Krieg gegen die „Rondas“

Der Mord an Maria Elena Moyano warf plötzlich die Frage der kommunalen Selbstverteidigung auf. Autonom organisierte Patrouillen sollten das Eindringen bewaffneter Kommandos verhindern. Doch wer sollte diese Patrouillen kontrollieren? Die Gemeindeverwaltung? Die Polizei? Die Armee? Bis zum Putsch wurde die Frage nicht gelöst. Seither wird sie nicht mehr gestellt.

Die sogenannten „Rondas“ haben eine lange und vielschichtige Geschichte. Die ersten Selbstverteidigungspatrouillen waren Ende der siebziger Jahre im Norden Perus gegen Viehdiebe und Wegelagerer, die den Schutz der Polizei genossen, aufgestellt worden. Nach Beginn des bewaffneten Kampfes der Guerilla im Jahre 1980 begann die Armee, in den von Sendero heimgesuchten Gebieten vorerst streng geheime Rondas aufzubauen. Das Massaker an acht Journalisten, die im Januar 1983 einen Vorfall im Dorf Uchuraccay untersuchen wollten, geht auf das Konto einer solchen geheimen Patrouille, die von der Armee gegen Fremdlinge aufgehetzt worden war.

Für die Regierung wurden die Rondas zunehmend ein Instrument der Kontrolle. Obwohl die Teilnahme offiziell auf Freiwilligkeit beruht, setzt sich jeder, der sich verweigert, dem Verdacht aus, mit Sendero zu arbeiten — selbst dort, wo die Guerilla noch gar nicht in Erscheinung getreten ist. Der Patrouillendienst ist beschwerlich, unbezahlt und gilt rund um die Uhr. Wer mitmacht, kann sein Feld nicht mehr bestellen und wird dadurch geradezu zum unehrlichen Lebenswandel gezwungen. Der Dienst ist auch gefahrvoll, denn die schlecht bezahlten und schlecht ausgerüsteten Soldaten schicken beim Vordringen in unbekanntes Gelände Rondistas als Vorhut voraus.

Das Verheerendste für die Bauern ist aber die Zwietracht, die durch den Patrouillendienst in und zwischen den Dörfern gesät wird. Viele Campesinos, die den Schutz der Militärs genießen, tragen private Konflikte über die Rondas aus.

In der Ashaninka-Gemeinde Boca de Cheny am Rande des Amazonasurwaldes ließ der Anführer der Patrouillen, Gilberto Chamorro, am 21.Oktober 1991 die ehemalige Bürgermeisterin Lidia Lopez Pauro, deren fünfzigjährige Mutter, drei Brüder und die zwei minderjährigen Schwestern verschleppen. Die Familie hatte sich gegen die Rondas ausgesprochen — zumal Sendero gar nicht in der Gegend operierte. Chamorro war vorher von Lidia Lopez der Korruption überführt worden und daraufhin dem von ihr favorisierten Kandidaten bei den Gemeindewahlen unterlegen. Wie die Nachforschungen von Verwandten ergaben, wurden die Gekidnappten als „Sendero-Kollaborateure“ an die Gemeinde La Cascada übergeben, wo die Guerilla schon mehrfach aufgetaucht war. Als sogar die Militärs nach den Verschwundenen zu forschen begannen, weil einer der Brüder seinen Wehrdienst leistete, wurden die Gefangenen gemäß den Aussagen von Zeugen in Stücke gehackt und in den Fluß geworfen.

Auch aus der Provinz Quinua sind mehrere Fälle von Massakern der Rondistas an Mitgliedern anderer Gemeinden belegt. Der Senderologe Degregori schätzt die Zahl der von Rondistas ermordeten Zivilisten auf an die 100, während mehr als 540 Patrouillenmitglieder von Sendero hingerichtet worden seien.

Seit Fujimoro begonnen hat, die Patrouillen mit Kriegswaffen auszurüsten, ist die Anzahl der Konfrontationen gestiegen. Man schätzt die Gesamtzahl der in Rondas organisierten Bauern auf 500.000; davon sind etwa 200.000 bewaffnet. Enrique Bernales, der Vorsitzende der Menschenrechtskommission im inzwischen aufgelösten peruanischen Senat, der vor einem Jahr noch die zu erwartende Zahl der Opfer politischer Gewalt für dieses Jahrzehnt auf 70.000 geschätzt hatte, sah sich nach der Bewaffnung der Patrouillen genötigt, seine Projektion auf 200.000 zu erhöhen.

Bewaffnete Selbstverteidigung gegen Sendero?

Trotzdem halten viele „Senderologen“ und Organisatoren der linken Basisbewegungen die Selbstverteidigungsverbände für eine effiziente und legitime Art der Bekämpfung von Sendero — allerdings nur, solange sich diese Gruppen dem Einfluß der Armee entziehen können. In der Südostprovinz Puno, wo nach erfolgreichen Landkämpfen im letzten Jahrzehnt die indianischen Gemeinden selbstbewußt und politisiert waren, gelang es zweimal, eine isoliert operierende Sendero-Kolonne zu zerschlagen.

Beide Male hatten die Senderistas den Fehler gemacht, populäre Bauernführer, die sich ihrem Diktat widersetzten, zu liquidieren. Daraufhin denunzierten die Bauern die Untergrundkämpfer bei der Polizei und verrieten deren Verstecke. Erst beim dritten Versuch seit 1990 konnte Sendero im kargen, 4.000 Meter hoch gelegenen Bergland von Puno Fuß fassen: vor allem bei der durch mehrere Witterungskatastrophen verelendeten Bevölkerung, die nichts zu verlieren hat. Sendero ergänzte nämlich seinen kriegerischen Diskurs durch die Aufforderung zur Produktion und verteilte in Robin- Hood-Aktionen gestohlenes Saatgut und Lebensmittel an die Bauern.

Gegen diese Entwicklung sahen die unabhängigen Bauernorganisationen zunächst den Weg der autonomen Selbstverteidigungspatrouillen. Doch schon vor dem Putsch erkannten sie die Grenzen. Denn gegen unbewaffnete oder nur mit Macheten ausgerüstete Rondas hat Sendero leichtes Spiel. Wer aber Waffen von der Armee akzeptiert, der verliert seine Unabhängigkeit: Bist Du gegen Sendero, dann bist Du für die Armee und bist Du nicht für die Armee, dann mußt Du für Sendero sein. Bis jetzt hat keiner einen Ausweg aus dem Dilemma gefunden.

Sendero: Machtübernahme bis zum Jahr 2000

Seit 1991 spricht Sendero vom „strategischen Gleichgewicht“, einer Vorstufe zur Offensive, und begründet seine triumphalistische Analyse mit der zunehmenden Unregierbarkeit des Landes, mit der zunehmenden Einmischung US-amerikanischer Militärs bei der Drogenbekämpfung und einer Reihe empfindlicher Schläge gegen militärische und ökonomische Ziele in verschiedenen Landesteilen. Die Streitkräfte dagegen sind demoralisiert und gleichen mangelnde Effizienz durch Brutalität aus. Auch in den Sicherheitskräften ist die Krise unübersehbar. Laut Angaben des angesehenen Peru-Report haben in den letzten sechs Jahren 4.700 von etwa 84.000 Agenten ihren Abgang beantragt und weitere 3.400 sind einfach desertiert.

„Presidente Gonzalo“, der Sendero-Chef Abimael Guzman, hat seinen Leuten die Machtübernahme noch in diesem Jahrzehnt versprochen — eine alptraumhafte Vorstellung für die Mehrheit der Peruaner. Aber weder die Parteien noch die Zivilgesellschaft und schon gar nicht die Militärs haben Rezepte anzubieten, um den Fortschritt der Senderistas aufzuhalten.

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