Weißes Amerika erntet die Früchte des Zorns

■ Das eklatante Fehlurteil einer fast ausschließlich mit Weißen besetzten Jury bildete den Auslöser für die Welle der Gewalt, die in der Nacht zu Donnerstag in Los Angeles begann und in der...

Weißes Amerika erntet die Früchte des Zorns Das eklatante Fehlurteil einer fast ausschließlich mit Weißen besetzten Jury bildete den Auslöser für die Welle der Gewalt, die in der Nacht zu Donnerstag in Los Angeles begann und in der Folge auf San Francisco, Seattle bis nach Atlanta überschwappte. Die Wut über den Freispruch von vier weißen Polizisten, die einen Schwarzen zum Krüppel geprügelt hatten, war der Tropfen, der ein brodelndes Faß zum Überlaufen brachte.

Die Rowdys und Gangster werden es nicht schaffen, diese Stadt zu terrorisieren“, versprach Los Angeles' schwarzer Bürgermeister Tom Bradley, während sich Feuer und Plünderungen auch in der zweiten Nacht nach dem unerwarteten und für die meisten Amerikaner unverständlichen Freispruch von vier weißen Polizisten über die gesamte Millionenstadt ausbreiteten. 6.000 Männer der Nationalgarde und Hunderte von Polizisten hatten trotz der verhängten Ausgangssperre weitere Ausschreitungen nicht verhindern können. Die Zahl der Toten erhöhte sich Freitag auf 29, die der Verletzten auf 900.

Und wie bereits bei den Rassenunruhen in Watts 1965, die bisher als die schwersten Proteste in der Geschichte von Los Angeles galten, griffen die Unruhen wie in einer Welle auf andere Teile Kaliforniens und der USA über. Ausgangssperren wurden in San Francisco verhängt wie auch in Atlanta, wo empörte Studenten am Donnerstag bei Demonstrationen Autos umgekippt und Scheiben eingeworfen hatten. Zusammenstöße wurden auch aus Seattle, Las Vegas, Cleveland, Omaha und Birmingham gemeldet.

„Die Stimmung ist sehr aufgeladen, höchst emotional. Die Leute sind so in Rage, daß es schwer ist, mit ihnen zu sprechen. Sie wollen Aktion. Und sie starten die Aktion“, kommentierte Diane Watson, eine schwarze Senatorin in Kalifornien, nachdem sie durch die betroffenen Gegenden in Los Angeles gefahren war. Watson meinte, die Unruhen seien schlimmer als jene vor 27 Jahren in Watts, die nach einem Zusammenstoß von Schwarzen und weißen Polizisten begannen. „Die Leute sind verärgert. Die Leute sind frustriert“, stellte auch die Kongreßabgeordnete Maxine Waters fest, in deren Wahlbezirk allein innerhalb weniger Stunden mehr als 200 Gebäude in Flammen aufgegangen waren. „Die Gewalt ist sicherlich sinnlos, aber wir wissen nicht, was wir den Leuten sagen sollen, die kein Ventil (für ihren Ärger) haben.“

Entsetzen und Ratlosigkeit über die explosionsartigen Unruhen, wie Watson und Waters sie artikulierten, bestimmten die meisten Reaktionen von schwarzen Politikern und Führern der Bürgerrechtsbewegung. Alle äußerten sie Verständnis über die Wut in den schwarzen Communities, riefen aber gleichzeitig zu Ruhe und Besonnenheit auf, ohne wirklich zu wissen, ob ihr Appell gehört wird. „Wir sind bitter enttäuscht über das Ergebnis (des Prozesses), rufen aber dazu auf, daß der Entscheidung mit Ruhe begegnet wird“, ließ als einer der ersten Benjamin Hooks von der „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP) verlauten: „Randalieren, Brandstiftung, Plünderungen und Morde lösen gar nichts.“ „Das Urteil der Jury im Fall Rodney King ist ebenso ein Hohn auf die Gerechtigkeit wie die Polizeiattacke auf Rodney King es war“, meinte John Jacob von der „National Urban League“. Aber auch er mahnte: „Der gerechtfertigte Ärger sollte auf zielgerichtete politische und soziale Aktionen gelenkt werden.“ Der schwarze Bürgerrechtler und ehemalige Präsidentschaftskandidat Jesse Jackson urteilte: „Das Recht gilt in diesem Land nicht für die Schwarzen.“ Basketball-Idol „Magic“ Johnson appellierte an die Schwarzen, ihren Frust nicht auf der Straße zu entladen.

Große Hoffnungen setzen viele Köpfe der Schwarzen-Bewegung auf einen möglichen zweiten Prozeß vor einem Bundesgericht. Wohl in der trügerischen Erwartung, die schlimmsten Ausschreitungen noch bremsen zu können, hatte das Justizministerium in Washington gleich nach den ersten Protesten in Los Angeles verkündet, die Prüfung, ob möglicherweise Rodney Kings Bürgerrechte verletzt worden seien, habe bereits mit Volldampf begonnen. Die jetzt entzündeten Proteste werden durch diese Versprechungen aber ebensowenig zu stoppen sein wie durch Präsident George Bushs Ankündigung, alles tun zu wollen, um die Wunden zu heilen und die Menschen in Los Angeles wieder zusammenzubringen. Auch der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat der Demokraten, der Gouverneur von Arkansas, Bill Clinton, bezweifelte, daß der Ausgang des Verfahrens gerecht gewesen sei.

Jetzt, wo sich die Wut aber erstmals seit drei Jahrzehnten wieder Luft gemacht hat, könnte es schwierig werden, die Ruhe im Land langfristig zu sichern. Denn die Ausschreitungen sind, wie Lane Kirkland, der Prädident der größten US- Gewerkschaft AFL-CIO, richtig bemerkte, „symptomatisch für mehr als ein Jahrzehnt einer Politik, die die Reichen und Privilegierten bevorzugt und die Benachteiligten verletzt und ignoriert hat.“ Jewelle Taylor Gibbs, Autorin eines 1988 erschienenen Buchs über junge schwarze Männer in den USA, glaubt, die Unruhen seien unvermeidbar gewesen. „Schwarze Teenager in Watts sind heute viel schlechter dran, als sie es 1965 waren. Es gibt mehr Morde, mehr Selbstmorde, mehr Verhaftungen, mehr Drogen und weniger Hoffnung“, zeichnet sie ein trostloses Bild. „Sie haben keine Vorbilder, ihre Schulen sind Kriegszonen, ihre Gemeinden sind gestorben. Meine Angst ist, daß die Gewalt sich in Gemeinden wie Watts über das ganze Land ausbreiten wird — wenn nicht an diesem Wochenende, dann diesen Sommer. Es gibt eine Menge Pulverfässer, die nur auf ein Streichholz warten.“

Nur bis zum Sommer werden die Amerikaner möglicherweise nicht warten müssen, wenn sich die Meldungen über gewaltsame Proteste weiter so mehren wie in den wenigen Stunden nach dem Ausbruch der ersten Feuer in Los Angeles.

Präsident Bush hatte wegen der Eskalation der Gewalt in Los Angeles am Freitag einen Kriegsrat einberufen, um mit Justizminister William Barr, dem stellvertretenden Verteidigungsminister Donald Atwood, dem Chef der Bundespolizei William Sessions und Generalstabschef Colin Powell über Maßnahmen zu beraten. Noch am Nachmittag schickte Bush dann 1.000 Bundespolizisten und Grenzschutztruppen nach Kalifornien. Auch wurden 4.000 Mann Infanterie in Alarmbereitschaft versetzt, die allerdings erst zum Einsatz gebracht werden können, wenn Bush den nationalen Notstand verkündet. Martina Sprengel, Washington