Gegen die Mauer gelaufen

■ Das ThéÛtre Repère aus Québec mit »Le Polygraph« in der Akademie der Künste

Seit zehn Jahren arbeiten in Québec zwei Männer an einer Konzeption. Sie betrifft das Theater, sofern sie Schauspieler auf einer Bühne vorsieht, der Anspruch reicht weiter und stellt das Medium selbst zur Diskussion. »Repère« (»Anhaltspunkt«), der Name des Ensembles, das für drei Tage in der Akademie der Künste gastierte, sei zugleich als Name einer Methode zu entziffern, so lehrt es das Programmheft. Auf dem Papier, dem bekanntlich geduldigen, ist leider auch das Ergebnis geblieben: zu berichten ist von einer enttäuschenden Montage sattsam bekannter Versatzstücke der Videoästhetik.

Womöglich ist das Ende eines Irrwegs zur Kenntnis zu nehmen. Jaques Lessard und Robert Lepage waren einst ausgezogen, das Schauspiel vom Vorurteil der Literatur zu befreien, das schon im Begriff des »Stücks« steckt. Lessard und Lepage wollen keine Stücke aufführen, sie wollen ausgehen von Dingen, von Plätzen, Gegenständen. Daran solle sich anschließen, was eher der Arbeit des Komponisten als derjenigen des Regisseurs gleicht: die Ausgangspunkte werden in formale Strukturen eingebettet, mehrfach umgeformt und in szenische Aktionen übersetzt.

Auch darüber wäre vielleicht weiter nicht zu reden, theoretische Attacken gegen die Vorherrschaft des Wortes und der erzählenden Dramaturgie auf der Bühne sind nicht neu, sie werden seit Jahren unter verschiedenen Vorzeichen vorgetragen, sollen dem sprachlosen Ausdruck des Körpers zu seinem Recht verhelfen oder auch die Grenze zu den undramatischen Gattungen der bildenden Kunst und der Musik überschreiten.

Auch im fernen Kanada werde in diesem Sinne experimentiert, schienen die Nachrichten über Jaques Lessard und Robert Lepage zu besagen, aber dann kam das »ThéÛtre Repère« selbst nach Europa, wurde (unter anderem) zum Hamburger Festival »Theater der Welt« 1988 eingeladen und war so ganz anders als alle anderen, vor allem so ganz anders als die Theorie. Das Stück hieß Trilogie des Drachens und erzählte die Geschichte einer chinesischen Familie in Québec, erzählte sie über fünf Generationen hinweg, erzählte sie banal, sentimental und raffiniert zugleich und mit einer solchen Überfülle an theatralischen Einfällen, daß sich die schon etwas Festival-gesättigten Kritiker allesamt die Augen rieben. Wovon alle nur redeten, schien plötzlich wahr geworden, mit Lepage und Lessard schienen die diversen Theaterzertrümmerungen ihren Sinn wiedergefunden zu haben. Die Frankokanadier buchstabierten das Vokabular der Bühnenmittel nicht mehr, sie sprachen damit, sie hatten sogar gelernt, bedeutungsvolle Sätze zu bilden.

Großer Jubel in Frankreich und New York, internationale und nationale Preise folgten, auch ein ausführlicher Artikel im deutschen Fachblatt 'Theater heute‘. Die wenigen Zuschauer und Zuschauerinnen, die am Samstag abend das Studio der Berliner Akademie der Künste aufgesucht hatten, mögen von dieser Vorgeschichte gehört haben, waren vielleicht ihretwegen gekommen. Wenn es so war, hatten sie eineinhalb Stunden Zeit, daran zu denken. Auf der Bühne geschieht wenig, das die Erinnerung an bessere Zeiten stören könnte.

Die Trilogie des Drachens, dieses unvergleichliche Theater, hatte auf einem Brookschen Sandplatz gespielt, dort jede Pantomime, jeden Dialog und jede Situation neu erfunden, aber nur, um auch gleich noch die Vollendung solcher Mittel in der Darstellung von Menschen und Umständen vorzuführen. Doch dieses große Theater scheint die Kraft des Ensembles verzehrt zu haben. Le Polygraph, zu deutsch Der Lügendetektor, heißt der Versuch, den erreichten Stand fortzusetzen. Er mißlingt zunehmend. Das Ensemble arbeitet seit zwei Jahren daran, frühere Fassungen spielten noch mit erheblichem technischen Aufwand mit den formalen Eigenheiten des Filmschnittes, nutzten sie zu verblüffenden Effekten und motivierten das Ganze mit einem melodramatischen Plot um einen mutmaßlichen Frauenmörder.

Auch auf der Bühne wird deshalb gefilmt, Texteinblendungen gliedern die einzelnen Einstellungen, eine Backsteinmauer dient abendfüllend als Projektionsfläche, ist mal Hinterhof, mal Straßenpflaster, vor allem aber steht sie dem Theater im Weg. Eine dieser kleinen, traurigen Liebesgeschichten bricht sich daran, ein Filmsternchen liebt einen Polizisten, liebt auch den sadomasochistischen Kellner aus dem Nachbarappartement. Vielleicht ist er der Mörder jener Schauspielerin, deren Schicksal sie, die Frau zwischen den Männern, im geplanten Film spielen will. Natürlich hat der Polizist damals in diesem Fall ermittelt — am Ende liegt ein nackter Toter auf dem Operationstisch im gerichtsmedizinischen Institut, der unglückliche Kellner: für den Lügendetektor ist es jetzt zu spät, nie werden wir die Wahrheit erfahren, was dem Programmheft die Bemerkung wert ist, es handle sich um einen »Film noir«.

Genau darum handelt es sich jedoch nicht, vor allem jetzt nicht, da die anfänglich verwirrende Vielfalt von Illusionstechniken einer sturen Mechanik von Klappe und Action gewichen ist. Und wenn es schneit, fallen Flocken, ein Close-up ist ein Spot: was den Film noir ausmachen würde, Atmosphäre und Geheimnis, wird beim produktionstechnischen Wort genommen. Wieder stehen Mittel auf der Bühne herum, an denen bloß theoretische Exempel statuiert werden, so sehr, daß sich offenbar das Ensemble selbst gelangweilt und die Tricks in der heute gespielten Fassung kräftig zusammengestrichen hat.

Nun sollen Aufführungen des »ThéÛtre Repère« offene Prozesse bleiben, so will es Lepages und Lessards Methode, wir hören es gerne. Nur führt der Weg offenbar zurück, schon jetzt zeichnet sich das bescheidene, literarische Kammerspiel ab, dann etwa, wenn Filmsternchen und Polizist im Restaurant sitzen und so gar nicht zurechtkommen miteinander, gerade jetzt nicht, da sie sich so lieben. Rührend ist das, komisch und sentimental. Theaterleiter Lepage inszeniert inzwischen einen Shakespeare nach dem anderen, ohne ihn kommt das Ensemble auf Europatournee vielleicht allmählich zur Einsicht, daß sein eigenes Spiel gar keine experimentelle Lizenz braucht, keinen Medienmix und keinen doppelt verschachtelten Plot eines Filmes, der im Theater wie ein Film gedreht wird. Sondern eine Schauspielerin und einen Schauspieler, vielleicht noch einen Tisch und zwei Stühle. Warten wir also auf bessere Nachrichten aus Québec. Niklaus Hablützel