piwik no script img

Zwischen Polarisierung und „Normalität“

Nach den schweren Unruhen macht sich Los Angeles an die Aufräumarbeiten/ 41 Menschen starben, über 2.000 Personen wurden verletzt/ Region zum „Katastrophengebiet“ erklärt/ „Die vielen kleinen Dinge, die sich angesammelt hatten“  ■ Aus Los Angeles M. Sprengel

Alfredo Espinoza läßt sich durch nichts erschüttern. Die Feuer im Süden von Los Angeles sind noch nicht erkaltet, da steht er mit seinen Blumenkübeln schon wieder an seinem Stammplatz Ecke Washington und Wilson Boulevard. Mitten im Herzen von South Central Los Angeles, da, wo am Mittwoch die bisher schwersten Unruhen in der Geschichte der USA ihren Ausgang genommen haben, hebt sich sein Fleckchen giftgrüner Kunstrasen mit den bunten Blumen wie eine unberührte Insel von der schwer mitgenommen Umgebung ab.

Die Ruinen:

Von der Einkaufszeile gleich hinter ihm kündet nur noch das Hinweisschild. Von „Golden Family Plaza“ steht allerdings außer den soliden Außen- und Zwischenmauern nichts mehr. Überreste der stählernen Inneneinrichtung, deren einstmalige Bestimmung — Backofen, Herd oder Abzug — nur noch schwer auszumachen ist, ragen bizarr verformt und verfärbt aus dem Schutt hervor.

Ruinen wie die von „Golden Family Plaza“ bestimmen in weiten Teilen von South Central das Bild. Hier, südlich vom Highway 10, der an die Küste nach Santa Monica führt, wo die ärmeren Schwarzen und Latinos teilweise in regelrechten Hütten hausen, waren die ersten Scheiben eingeworfen, die ersten Feuer angesteckt worden. Zwei Nächte lang machten sich die von der amerikanischen Gesellschaft Vergessenen auf diese Weise Luft.

Der unerwartete Freispruch jener Polizisten, die vor einem Jahr den Schwarzen Rodney King brutalst zusammengeschlagen hatten, war nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ein Zusammenstoß zwischen Polizisten und Schwarzen hatte hier, in Watts, bereits 1965 die Rassenunruhen ausgelöst.

Anders als damals griffen die Ausschreitungen jetzt aber auch auf andere Stadtteile — Hollywood, Koreatown und Long Beach — über. 41 Menschen kamen dabei bislang ums Leben, über 2.000 wurden verletzt. Rund 3.800 Gebäude — meist kleinere Geschäfte — sind in Los Angeles zerstört worden, schätzt die Stadtverwaltung. Gesamtschaden: Mindestens 550 Millionen Dollar. Am Samstag erklärte Präsident George Bush die Region Los Angeles zum „Katastrophengebiet“.

Die Bewacher:

Freitag nacht, Western Avenue: Eine Kolonne von bestimmt einem Dutzend Polizeistreifen rast mit hoher Geschwindigkeit und heulenden Sirenen Richtung Norden. Ein roter Kleinwagen allem voran. Auf der Höhe der 48sten Straße hat die Jagd ein abruptes Ende. Der Wagen knallt gegen ein Stoppschild, der Fahrer wird im nächsten Vorgarten gestellt. Weshalb er versucht hat, den Polizisten zu entwischen, ist noch unklar.

Der Reporter von Channel 9 gibt aber ein betont theatralisches „Uff“ von sich, als er mit einem Blick über die Schulter live den Ausgang der Verfolgung kommentiert. Viel mehr hat er in dieser Nacht auch nicht zu berichten. Die Straßen sind leergefegt, die Bevölkerung ist durch die Ausgangssperre zu einem Abend vor dem heimischen TV verdonnert.

Im Schrittempo schleicht ein sogenannter Humvee, eine besondere Art von Militärfahrzeug, an Geschäften und Privathäusern vorbei. Vier Nationalgardisten in klassischen grün-braunen Tarnuniformen, zwei auf der Laderampe des Jeeps stehenden, die Gewehre einsatzbereit vor der Brust, lassen ihre Blicke über die Häuserfronten schweifen.

3.500 Soldaten der National Guard sind in Los Angeles im Einsatz, gemeinsam mit rund 5.000 Beamten der örtlichen Polizei und 4.700 Ordnungskräften anderer Kategorien eine stattliche Streitmacht. Wenn die nicht ausreichen sollte, stehen weitere 4.500 Männer und Frauen der Armee in Bereitschaft. Die aus Camp Pendleton und Fort Ort extra eingeflogenen Marines und Infantristen haben sich zuletzt in Panama und bei der Operation „Desert Shield“ im Golfkrieg bewährt.

Der Besitzer des „California Supermarkets“ in Koreatown fühlt sich von den Nationalgardisten vernachlässigt. Nachdem um die Ecke am Donnerstag das Geschäft eines Kollegen niedergebrannt und geplündert worden ist, nimmt er die Sache jetzt lieber selbst in die Hand. Mehrere bewaffnete Männer hat er auf dem Dach seines Supermarktes postiert, die Schaufensterfront des Ladens mit besonderem Einfallsreichtum vor Bruch abgesichert. Kartons und Holzpaletten sind nur die Basis für die Barrikade, oben drauf sitzen — geschickt balanciert — zusätzlich mehrere Reihen Einkaufswagen. Auch in Hollywood gehen einige Bewohner mit Baseballschlägern und Waffen, die in den USA ja auch für Privatleute fast so leicht wie Brot im Supermarkt zu kaufen sind, Streife.

Die Medien:

All diese Bilder werden den Haushalten in Los Angeles per Fernseher in die heimische Stube gebracht. Von den „ersten vom Fernsehen vollkommen übertragenen Unruhen“ spricht deshalb auch ein Reporter. Von morgens bis abends berichten alle Lokalstationen mit Live-Einspielungen aus verschiedenen Teilen der Millionenstadt über die Zusammenstöße. LA unter Belagerung heißt die Sondersendung auf Kanal 9, Stadt in Krise auf Kanal 5. Aufgeschreckt von Vorwürfen, die Medien würden die Randalierer durch ihre Präsenz erst richtig anstacheln, wird von einigen leise und sachte Selbstkritik geübt. Natürlich ohne Konsequenzen.

„Mensch, da ist ja gar keine Polizei“, hören die Fernsehzuschauer am Donnerstag abend einen Reporter mehrfach ein Bild kommentieren, das wahrscheinlich als Symbol für die 92er Unruhen in die Geschichte eingehen wird, wie das des nackten, schreienden Mädchens damals für den Vietnamkrieg. Ein Mann kniet auf dem Boden neben einem Lastwagen und versucht sich aufzurichten. Ein Junge tritt ihm in die Magengegend, der Mann bricht zusammen. Nächster Versuch: Ein anderer wirft ihm etwas an den Kopf und reißt wie im Triumph die Arme hoch, als der Mann erneut zu Boden geht. Fußtritte und Schläge, all das flimmert scheinbar endlos über den Bildschirm, kommentiert von einem Reporter, der in einem Hubschrauber wenige Meter über der Szene schwebt.

Freitag abend, Kanal 9, Sondersendung: gleiche Bilder, diesmal in Zeitlupe eingespielt. „Das tun wir nicht, um das Ereignis auszubeuten, sondern um die Täter zu identifizieren“, erklärt die Moderatorin mit Grabesstimme und gibt eine Telefonnummer an, die man doch bitte anrufen möge, wenn man jemanden erkannt habe. Natürlich anonym, wenn man will, und eine Belohnung gibt es auch. Übrigens: Zwei Schwarze, die die Tat am Fernseher verfolgten, sind schließlich hingefahren und haben den weißen Lkw-Fahrer ins Krankenhaus gebracht.

Die Helfer:

Samstag morgen, Western Avenue: Vier Männer lassen sich erschöpft auf die Ladefläche eines Pick-up- Trucks fallen, wischen mit den Handrücken über die verschwitzten Gesichter. Papierne Atemschutzmasken hängen um ihre Hälse. Besen und Schaufeln, mit denen sie eben noch mitten im Schutt eines ausgebrannten Videogeschäftes gestanden haben, werfen sie neben sich. Ein Wagen hält kurz an, der Beifahrer reicht den ausgelaugten Männer ein Six-Pack Coca-Cola.

Edward James Olmos, Schauspieler und Aktivist für die Sache der Latinos, hat am Freitag, nachdem erstmals wieder Ruhe eingekehrt war, als erster den Besen in die Hand genommen und ist runter nach South Central gefahren. Seitdem sind viele seinem Beispiel gefolgt. Schwarze wie Weiße, Junge wie Alte. „Das hilft, über die Frustration hinwegzukommen“, meint eine ältere Frau. Fernseh- und Radiostationen rufen stündlich zu solchen Hilfsaktionen auf und geben Tips, in welchen Gegenden am dringsten Unterstützung bei Aufräumarbeiten gebraucht wird. Was als Nachbarschaftshilfe gepriesen wird, scheint zumindest zu großen Teilen von Leuten getragen zu werden, die von weit herkommen.

Western und Slauson Avenue:

Mindestens hundert Eifrige machen sich an den Überresten von „Western Village Cleaners“ zu schaffen. Ein Dutzend Männer stemmen mit lautem Geschrei eine verschmorte Reinigungsmaschine über ihre Köpfe und tragen sie mit vereinten Kräften aus den verkohlten Mauern hinaus. Mit Hauruck werfen sie die Maschine auf einen Schutthaufen in der Mitte des ehemaligen Einkaufszentrums. Verdreckt, wie aus einer Bergwerksgrube, aber strahlend und stolz sehen sie sich das Ergebnis ihrer stundenlangen Bemühungen an: Schutt und Dreck, „sauber“ zu einem eindrucksvollen Hügel zusammengekehrt.

Ruß-, aber auch Biergestank hängen in der Luft. Neben der Reinigung muß wohl auch ein Getränkevertrieb gewesen sein. Leute mit Besen, Schaufeln und sogar Gartengerät — wie Rechen oder Harken — ausgestattet, ziehen grüppchenweise durch South Central. Wenn sie an einem „Objekt“ fertig sind, suchen sie das nächste. Sie können nur den gröbsten Schutt zusammenräumen, Straßen und Plätze freikehren. Für die eigentlichen Aufräumarbeiten müssen Bagger und Laster ran.

Steve Jones hat bereits früh morgens den Besen geschwungen. Auf seinem hellen Hemd hat sich eine dünne Schicht Rußpartikel abgesetzt, und auch seine Jeans zeigen deutliche Spuren der Arbeit. Steve wohnt weiter nördlich. „Ich bin dritte Generation schwarzer Mittelklasse“, erklärt er. Er ist zum College gegangen und jetzt im Pest Control Business tätig, zu gut deutsch, er ist Kammerjäger. Steve kann verstehen, daß die Leute hier mit Rage auf das Urteil im King-Prozeß reagiert haben. Es seien die vielen kleinen Dinge, die sich in der Vergangenheit angesammelt haben und nun explodiert seien.

Er weiß wovon er spricht. Schließlich erlebt er den „Rassimus in kleinen Dosen“ täglich am eigenen Leib. „Mir passiert es heute noch, daß ich in einen Aufzug steige und weiße Leute von mir abrücken.“

Wild mit den Händen gestikulierend erklärt Steve: „Wenn sich Weiße auf der Straße treffen, schätzen sie sich gegenseitig kurz ab, an der Kleidung zum Beispiel. Ein Schwarzer kann noch so elegant und fein gekleidet sein, bis zu einem bestimmten Alter wird er immer in die Kategorie potentieller Krimineller geworfen werden. Was glauben sie, was das auf Dauer bewirkt?“ Und was Steve noch mehr ärgert, ist, daß die meisten Weißen glaubten, mit den Reformen der fünfziger und sechziger Jahre ihren Teil zur Gleichberechtigung der Schwarzen geleistet zu haben und sich damit von jedem Vorwurf von Rassismus freisprechen zu können. Die Ausschreitungen kann er trotzdem nicht gut heißen. „Das ist als ob man sich die eigene Nase abbeißt.“

Kritik hat er auch an die Adresse seiner eigenen Leute zun richten. Vor allem an die der Schwarzen-Bürgerrechtsbewegung. „Die glauben immer noch, daß man alles von der Regierung erbitten muß. Die wird uns aber nichts geben, solange wie wir nicht auch wirtschaftlich ein Potential haben. Wir müssen wirtschaftlich stärker werden, dann werden wir auch politisch was zu sagen haben.“ Steve hat in den letzten Tagen viel über die Beziehungen von Schwarzen und Weißen in seiner Heimat nachgedacht. „Los Angeles ist die am meisten polarisierte Stadt, die ich kenne.“ Daß er sich nun aber nach mehreren Stunden Dreckschaufeln bei etwa dreißig Grad Hitze darauf freut, nach Hause zu fahren und Basketball zu sehen, zeigt auch, wie weit man hier in den letzten Stunden wieder zur Normalität zurückgekehrt ist.

Nach dem Rodney-King-Urteil hatte er auf seiner Arbeit noch alles stehen und liegen lassen. „Als das Urteil raus war, war mir sofort klar, was passieren würde.“ Von einer zügigen Heimfahrt kann Steve vorläufig aber nur träumen. Meilenlange Staus auf den Straßen in South Central — bedingt durch Ampelausfälle — machen ein Weiterkommen hier zur Geduldsübung.

Selbsternannte Schutzpolizisten tun ihr bestes, um den Verkehr an den Hauptkreuzungen zumindest in einigermaßen geordneten Bahnen verlaufen zu lassen. Latinos wie Schwarze haben sich spontan in die Verkehrsmitte gestellt und fuchteln mit ihren Armen wild — aber bestimmt — in der Luft herum. An Western und Jefferson dirigiert ein untersetzter Latino, dem der Schweiß auf der Stirn steht, mit energischen Stößen in seine Trillerpfeife die Wagen von links nach rechts. Wie die meisten Spontanschupos hat auch er sich zur Erfrischung in der Mitte seiner Verkehrsinsel ein Depot an Wasserkanistern angelegt.

Alfredo Espinoza, der mitten in all dem sitzt, bringen weder die Verkehrsströme, noch die an ihm vorbeihastenden Schaufelträger aus der Ruhe. Er wartet ja schließlich auf einen Kunden, der ihm wenigstens ein paar Blumen abkauft.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen