Im Erzgebirge resignieren die Frauen

Bald jede dritte Frau im Erzgebirge ist inzwischen ohne Arbeit/ „Aus demselben Grund wie die Männer“ wollen die meisten nicht zu Hause bleiben/ Tourismus und Verwaltung sind die Strohhalme/ Freiwillig arbeitslos ist niemand  ■ Von Detlef Krell

Annaberg-Buchholz (taz) — Stups und Mops heißen die neuen Flitzer aus dem Erzgebirge. Das farbenfrohe Dreirad und ein Kipper, der bequem ein Kind aufnehmen kann, stehen neben anderen Spielsachen im Büro von Helga Triebe. Die Geschäftsführerin der Plasticart GmbH hat sich auf ein gewagtes Spiel eingelassen. Sie übernahm den größten Splitter des einst größten Spielwarenherstellers der DDR. „Ein Schrotthaufen mit überlebensfähigem Sortiment“ sei dieser Betrieb, der wie ein Schwalbennest an einem steilen Hang in der Gebirgsstadt Annaberg-Buchholz klebt.

Vor 500 Jahren wurde in dieser Gegend Silber gefunden. Das Erzgebirge blühte auf. Mit der langen Krise des Bergbaus kam das Handwerk nach Annaberg-Buchholz; Posamentenhersteller und Spitzenklöpplerinnen begründeten eine Tradition. Kleine Betriebe etablierten sich, die Stadt industrialisierte und geriet aus den Fugen. „Wir sind fast der letzte Industriebetrieb, der übrig ist“, fürchtet die Chefin, die früher bei Plasticart als Justitiarin gearbeitet hat. Auf der geschrumpften Liste der ortsansässigen Unternehmen nimmt Helga Triebe nicht nur den Sonderplatz ein, eines der größten zu führen. Sie behauptet sich auch als eine von drei Unternehmerinnen in der Männerwirtschaft.

„Noch ist der Betrieb für die Treuhand unverkäuflich. Wir sind dabei zu sanieren, und wollen ihn dann als Geschäftsführung selbst kaufen. Deshalb habe ich mich in diese Aufgabe gestürzt.“ Begonnen hat sie mit 145 Leuten und der üblichen Arbeitsteilung: Die Männer an den Maschinen und die Frauen am Montageband. Im vorigen Jahr mußte Plasticart auf 100 Leute abbauen. „Aber das reicht noch nicht“, weiß die Geschäftsführerin. Am Ende wird sie sich nicht mehr als 56 Arbeitskräfte leisten können, die Hälfte der Entlassenen werden Frauen sein.

Keine sitzt gern zu Hause

„Für sie, die oft als Ungelernte am Band saßen, ist es besonders hart.“ Ob sie Frauen kennt, die nun froh sind, endlich zu Hause bleiben zu können? Die Antwort kommt sofort: „Nein, nicht eine einzige.“ Nicht nur, daß das Geld der Männer zu knapp ist, treibt die Frauen auf Arbeit. „Sie haben immer gearbeitet und sind es gar nicht gewöhnt, zu Hause zu hocken. Aus demselben Grund, aus dem das auch ein Mann nicht will.“

In der Nachbarschaft der Plasticart blieben von mehreren „typischen Frauenbetrieben“ nur noch baufällige Immobilien. Erst in diesen Tagen entläßt ein Täschnereiwarenbetrieb die letzten Frauen. Das mittlere Erzgebirge ist die Region mit der höchsten Arbeitslosigkeit Deutschlands. 20,8 Prozent Arbeitslose registrierte das Arbeitsamt Annaberg- Buchholz im März. 66,3 Prozent der Arbeitslosen sind Frauen.

So ist bald jede dritte Frau zwischen Aue und Marienberg arbeitslos. Die kurzarbeitenden und in auslaufenden ABM-Stellen untergebrachten Frauen kommen in dieser Rechnung noch gar nicht vor. Gunter Weigel (Bürgerforum), Dezernent für Wirtschaftsförderung im Landratsamt, erinnert daran, daß hier noch vor drei Jahren praktisch jede Frau berufstätig war, viele als Heimarbeiterinnen in der Textilindustrie. Es sei für ihn „eine bittere Erkenntnis“, daß auch in eventuell kommenden Konjunkturzeiten „nie wieder diese Zahlen erreicht werden“.

Gegen das drohende Fiasko der Region habe die Wirtschaftsförderung ein „Dreisäulenmodell“ entwickelt. Erste Säule sei die „Bestandspflege“ der bestehenden Industrie und die Ansiedlung von Investoren. Der Dezernent sieht schon erste Lichter am Horizont. Zur Produktion von Feinstrumpfwaren sowie von Türbeschlägen lassen sich jeweils die Branchenführer im Erzgebirge nieder.

„Chancen für Frauen“ sieht der Dezernent vor allem in der zweiten Säule: dem Tourismus. Eine „renommierte Firma“, die bereits im Rhein-Main-Gebiet und in Bonn aktiv war, habe ein Konzept erarbeitet, daß vom Edeltourismus in Oberwiesenthal bis zur sanften Tour in den noch unberührten Wäldern um Jöhstadt reicht. Eine „Tourismusindustrie“ wie in Bayern und Österreich könnte, so die Vision im Landratsamt, bald vielen Frauen neue Arbeitsplätze schaffen.

Dritte und „völlig neue“ Säule ist das Verwaltungszentrum Annaberg- Buchholz. Schon heute ist das Arbeitsamt dort größter Arbeitgeber im doppelten Sinn. Etwa 500 MitarbeiterInnen sind für die Angelegenheiten der mehr als 60.000 Arbeitslosen, KurzarbeiterInnen, UmschülerInnen und ABM-Kräfte des Amtsbezirkes tätig.

Auch Regina Schwabe bekommt ihr Geld vom Arbeitsamt. An der Peripherie der Stadt, im tristen Adam- Ries-Neubaugebiet, ist Anfang des Jahres ein „Mütter- und Familienzentrum“ eröffnet und mit einer Handvoll ABM-Stellen versehen worden. Bevor sie dort begann, den Frauen „etwas Hoffnung und Hilfe“ zu geben, war Regina Schwabe Absatzleiterin in einem Textilbetrieb. „Ich habe 32 Jahre im Betrieb gearbeitet, von klein auf. Dann bin ich gegangen worden. Wohl weil die zuerst gehen mußten, die immer ihre Meinung gesagt haben.“ Von ihren früheren Kolleginnen blieb sie die einzige, die wieder eine Arbeit fand.

Ingeborg Schramm vermißt ihre frühere Tätigkeit bei der Gebäudewirtschaft nicht. Sie würde auch zu Hause bleiben mit ihren vier Kindern. „Aber wenn der Mann 800 Mark verdient?“ Bevor sie die Stelle im Mütterzentrum erhielt, bekam sie 300 Mark Arbeitslosengeld. „Der Weg zum Sozialamt ist schwer, sehr schwer. Die Frauen dort tun so, als müßten sie es aus der eigenen Tasche zahlen.“

In ihrem Bekanntenkreis „ist es so, daß die Frauen resignieren“. Ingeborg Schramm ist, wie auch ihre Kollegin, „begeistert von der Idee des Mütterzentrums“, das von der Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises, Evelis Heise, angeregt wurde. Fast täglich würden Frauen kommen und fragen, ob nicht noch eine Stelle frei wäre. „Dann bringen sie ihre Kinder mit, die sie oft schon aus der Tagesstätte abgemeldet haben, und wir kümmern uns darum, daß sie nicht verlernen, mit Kindern zu spielen.“ [Gibt's so was auch für (arbeitslose) Väter/Männer? Das würde doch die Kneipen erheblich entlasten! d.sin]

Ob Frauen sich auch als Unternehmerinnen auf den Markt wagen, ist ihnen nicht bekannt. „Ich denke, hier sind die Frauen nicht so risikobereit. Und wer hat denn schon einige zehntausend Mark auf dem Konto?“, fragt Ingeborg Schramm. In den Zeitungen würde sie ständig Stellenangebote lesen. „Aber nicht hier, sondern in den alten Bundesländern.“ Bis Ende des Jahres haben die Frauen im Mütterzentrum eine Aufgabe, die sie sich gut als Alternative zum früheren Job vorstellen können. Ob die ABM-Stellen letztlich nur eine Gnadenfrist gewähren, wissen sie noch nicht. Den Wunsch, auf Arbeit zu gehen, kennen sie auch bei Frauen aus den alten Bundesländern. „Sie warten, sind frustriert und haben den Drang, irgend was darzustellen“, hat Regina Schwabe beobachtet. „Aber unsere Frauen waren immer was. Und wenn auch nur Arbeitstiere.“

„In Anführungsstrichen“, ergänzt die Kollegin. „Wir sind nun mal nicht stolz darauf, Hausfrauen zu sein.“ Doch während die Männer gegen den Zusammenbruch der Stahlindustrie und anderer „männertypischer“ Arbeitsplätze auf die Tische der Politiker klopften, ziehen sich die Frauen nahezu still zurück. „Die Frauen hier sind noch zu träge, um auf die Straße zu gehen“, vermutet sie. „Das hat auch was damit zu tun, daß wir nie den Mund aufmachen durften. Ich gehe nicht auf die Straße. Das liegt mir nicht.“