: „Eine Armee von Psychologen“
Drei russische Atomphysiker über ihre Perspektiven ■ INTERVIEW VON BARBARA KERNECK
Werden im Zeichen von Krise und politischer Instabilität hochqualifizierte Naturwissenschaftler, Weltraum- und Atomwaffenexperten die Länder der ehemaligen UdSSR verlassen, wie die Ratten das sinkende Schiff, und sich in Richtung Dritte Welt bewegen? Im Westen grassieren entsprechende Ängste, während die russische Presse derartige Befürchtungen eher herunterspielt. Doch das „Wegfließen der Hirne“, wie es hier heißt, bleibt nach wie wor ein Dauerbrenner.
Mit der Konstruktion von Atomwaffen waren in der ehemaligen Sowjetunion nach Auskunft von Experten zuletzt rund 100.000 Menschen beschäftigt. Zwei- bis dreitausend davon sind im Besitz streng geheimer Informationen. 100 Millionen Dollar will die EG bereitstellen, um zusammen mit den USA ein internationales Wissenschafts- und Technologiezentrum in der GUS zu errichten, das ex- sowjetischen Atomwissenschaftlern und Ingenieuren eine Zukunft bieten soll.
Unsere Gesprächspartner Jurij, Igor und Valerij — wie wir sie nennen wollen — arbeiten am Moskauer Kurtschatow-Institut für Atomphysik. Sie sind um die vierzig Jahre alt, Physiker mit Leib und Seele und arbeiten in der experimentellen Forschung auf dem Gebiet der Elementarteilchen. Die taz traf sie beim Mittagessen in einer Moskauer Wohnküche.
taz: Ist die Angst begründet, daß eine Unzahl Ihrer qualifizierten Kollegen die ehemalige UdSSR verlassen werden?
Jurij: Für die ältere Generation ist der Prozeß schon gelaufen. Die „großen Geister“, viele der besten Physiker und Weltraumexperten aus den Institutionen in und um Moskau, lehren schon seit drei oder mehr Jahren als Professoren in den USA.
Valerij: Was hiergeblieben ist, sind Leute aus dem Mittelbau wie wir, um die Vierzig und jünger, die man im Westen wahrscheinlich nicht braucht. Denn ich glaube doch, daß die Wissenschaft dort in dieser Hinsicht weiter ist als bei uns. Von einem „Massenabfluß“ von Hirnen in den Westen kann also gar nicht die Rede sein.
Igor: Viel wahrscheinlicher als die Auswanderung von Menschen ist auf unserem Gebiet die Auswanderung von bereits fertigen Waffen. Daß über irgendwelche kommerziellen Strukturen Atomwaffen aus dem Land gelangen, das halte ich schon eher für möglich. Wenn schon in Armenien und Aserbaidschan ganz offen mit konventionellen Waffen aus unserer Armee geschossen wird, warum denn nicht eines Tages dort und außerhalb der GUS mit Atomwaffen aus unserer Armee?
In letzter Zeit gab es spektakuläre Nachrichten aus der Bundesrepublik und Frankreich über den Handel mit angereichertem Uran aus der GUS.
Igor: In den Reaktoren und Fabriken, in denen so etwas hergestellt wird, sind die Kontrollen überall so, daß man, wenn man sich dieses Material unter den Nagel risse, zwar sehr bald „fortwandern“ würde — aber nicht gerade ins Ausland.
Öfters ist in letzter Zeit die Rede davon, daß Indien sowjetische Wissenschaftler einladen könnte.
Valerij: Soweit ich weiß, hat man es dort schon selbständig bis zur Atomwaffenherstellung gebracht. Immerhin wäre das für die Menschen aus unserem Land eine vorstellbare Umwelt. Am meisten Angst haben bei uns alle vor einer islamischen Herrschaft und vor diktatorischen Regimen. Ein Leben unter beiden ist für uns und andere Kollegen rein psychologisch nicht vorstellbar. Wenn unsere Wissenschaftler zum Beispiel früher in Libyen, in Tripolis, ein Institut zur friedlichen Nutzung der Atomenergie gebaut haben, so war das für sie nur „Gastarbeit“ auf Zeit. Die Wissenschaftler bei uns sind doch eher Leute westlichen Typs und vor islamischem Fundamentalismus haben sie eine Heidenangst.
„Wir lebten wie in einem Ghetto“
Früher haben viele Physiker in für Ausländer und auch die meisten Russen gesperrten Städten wie „Arsamas 17“ (an der unteren Wolga) gelebt. Wie hat sich das auf ihre Psyche ausgewirkt?
Jurij: Auch wir in Moskau haben früher fast wie in einem Ghetto gelebt. Und wenn wir früher oder in letzter Zeit mit Kollegen aus diesen Regionen zusammentrafen, konnten wir keine wesentlichen Unterschiede feststellen. Früher lebte unser ganzes Volk in einer geschlossenen Zone, heute hat sich das alles sehr relativiert. Früher durften wir nicht daran denken, ins Ausland zu reisen, Heute ist uns das unbenommen. Und wenn wir unter Verfolgungswahn litten, würden wir nicht hier in dieser Küche sitzen und uns mit Ihnen unterhalten.
Und wie sind Sie mit Ihrem materiellen Lebensstandard zufrieden?
Igor: Natürlich verarmt bei uns zur Zeit die gesamte Bevölkerung rapide, und der Lebensstandard der Leute mit dem Titel „Kandidat“ oder „Doktor der Wissenschaften“ ist in letzer Zeit kraß gefallen.
Bekommen Sie in Ihrem Institut irgendwelche Sonderzuteilungen an Waren?
Jurij: Hin und wieder bekommen wir Lebensmittel, müssen aber durchaus durchschnittliche Marktpreise dafür zahlen. Und überhaupt sind nicht viele Unternehmen bereit, uns irgend etwas zu liefern.
Stimmt, ich hatte ganz vergessen, daß Sie bei Ihrer Art von „Produktion“ den anderen Unternehmen ja auch keine Waren als Gegenleistung zum Tausch anbieten können.
Jurij: Ja, mit „barter“ ist bei uns nicht viel zu machen. Wenn ich zurückdenke, wie ich vor fünf Jahren gelebt habe, als ich 170 Rubel im Monat verdiente, und wie ich jetzt mit einem Gehalt von 1.700 Rubeln lebe, so muß ich sagen, daß die Versorgung unserer Familie mit Lebensmitteln normal geblieben ist. Aber an irgendein neues Kleidungsstück für meine Frau oder mich ist einfach nicht mehr zu denken. Ich zweifele keinen Moment daran, daß ich den Parka, den ich jetzt anhabe, auch noch in zehn Jahren tragen werde: Wir haben zwei Kinder, die noch wachsen.
Valerij: Da gibt es ein kurioses kleines Detail. Eine Gruppe von Leuten — wir gehören nicht dazu —, die besonders gefährliche Arbeiten ausführen, zum Beispiel im Zusammenhang mit radioaktiven Emissionen, bekamen bei uns schon immer Talons zum Erwerb besonders gesundheitsförderlicher Lebensmittel. Die Anzahl dieser Talons ist gleich geblieben. Der Wert eines einzelnen Scheins wurde von zehn auf 25 Rubel gesteigert. In dieser Zeit sind aber die Preise um das Zehnfache gestiegen.
Wie steht es überhaupt mit der Arbeitssicherheit?
Jurij: Sie ist wahrscheinlich geringer als im Westen. Was uns Stalin vererbt hat, ist der Hang, den Wert eines Menschenlebens ziemlich gering einzuschätzen. Das wirkt sich auch auf unsere „Produktionskultur“ aus, wenn man es so nennen darf.
Valerij: In unserem Land wird ja in vielen Bereichen einfach „Gespür“ statt technischer Instrumente eingesetzt. Und wir verlassen uns da sehr stark auf unsere Erfahrung. Es ist uns sehr bewußt, daß in gewissen Bereichen der Unterschied, ob wir uns 20 oder 60 Zentimeter an einen Gegenstand annähern, lebensentscheidend sein kann. Und da kommen wir eben instinktiv nicht näher heran, als angeraten ist. Ein westlicher Wissenschaftler würde da vielleicht ein Instrument am Ärmel tragen, das piepst, wenn er sich der zulässigen Grenze nähert.
„Tschernobyl-Reaktoren soll man nicht bauen“
Können Sie ein paar Worte zur Betriebssicherheit der sowjetischen Atomreaktoren sagen?
Jurij: Leider hat sich der politische Zerfall der UdSSR auf diesem Gebiet sehr negativ ausgewirkt. Die qualifizierten Fachleute in unserer Disziplin, auch in den anderen Republiken, waren mehrheitlich Russen— und viele von ihnen hält es dort nicht mehr. Nur in der Ukraine hätschelt man sie noch durch hohe materielle Anreize. Die andere Seite ist der Fortfall der zentralen Kontrolle. Unsere Gruppe lud man regelmäßig zur Inspektion eines Reaktors in einer anderen Republik ein. Jetzt schon lange nicht mehr, und wer sich heute überhaupt darum kümmert, weiß der Teufel.
Igor: Willst du damit sagen, daß es in Tschernobyl an mangelnder zentraler Kontrolle lag?
Jurij: Unsinn, solche Reaktoren darf man eben einfach nicht bauen. Das heißt aber doch nicht, daß Kontrolle, wenn sie dort versagt hat, überall überflüssig ist.
Valerij: Ich möchte da einen bezeichnenden kleinen Vorfall beisteuern. Bei der Besichtigung eines Reaktors sieht eine uns bekannte Kommission plötzlich, daß ein Rohr aus rostfreiem Stahl, in dem radioaktives Material weitergeleitet wird, so eine komische schwarze Naht hat. Und da zeigt sich, daß das Rohr geplatzt war, und irgendein Monteur hatte es nach guter Gewohnheit mit dem ersten besten Metall, das zur Hand war, wieder zusammengeschweißt — anstatt mit dem vorschriftsmäßigen Spezialmaterial.
Unter der neuen russischen Regierung ist auch Ihnen eine neue Behörde namens „Minenergoprom“ vorgesetzt.
Jurij: Ehrlich gesagt kümmern wir uns nicht allzu sehr um solche Sachen. In unserem Lande ändert sich alles so oft und so schnell. Und alles, was sich ändert, wirkt sich auf unsere Arbeit entweder überhaupt nicht aus oder immer weiter zum Schlechten hin.
Igor: Innerhalb des Instituts spielt es eher eine Rolle, daß führende Kader oberhalb der Ebene des Abteilungsleiters zehn- bis zwanzigmal mehr verdienen als wir, als die Leute, die die eigentliche Arbeit machen. Und dabei habe ich — rein persönlich — den Eindruck, daß unser Schiff überladen ist. Auf jeden, der bei uns praktisch arbeitet, kommen etwa vier bis fünf, die ihn verwalten.
Valerij: Gelinde gesagt ist die Struktur unseres Institutes ungesund. Es krankt vor allem daran, daß es keine „Marketender“-Ebene gibt, die uns mit dem Nötigen aus dem Hintergrund versorgt. Da hast du eine zündende neue Idee, und um das Material und die Instrumente zu ihrer Erprobung heranzuholen, mußt du dich erst mal ungefähr ein halbes Jahr selbst abmühen. Zum zweiten scheint mir, daß ein ideales Forschungsteam Leute aus allen Teilen der Hierarchie vereinigen sollte: also jemanden von der Verwaltung, Gelehrte, Ingenieure und Laboranten. Und gerade der Umstand, daß früher alle Mitarbeiter unseres Institutes vom Dienst in der Armee ausgenommen waren, diese Vergünstigung aber vor sechs oder sieben Jahren aufgehoben wurde, dies hat zu einem Mangel an Nachwuchs von Angehörigen der letztgenannten beiden Berufe geführt. Und manchmal arbeiten wir ganz ohne Laboranten.
Igor: Sie wissen nicht mehr, was sie bei uns eigentlich noch sollen. Der Lohn ist niedrig, die Arbeit schädlich, und dann muß man auch noch zur Armee.
Jurij: Aus all diesen Gründen sind wir natürlich professionell schlechter qualifiziert, als wir sein könnten: denn zu sechzig bis achtzig Prozent unserer Zeit beschäftigen wir uns mit Dingen, auf die unsere Ausbildung eigentlich nicht zugeschnitten war.
„Das Land sollte andere Prioritäten haben“
Wie schätzen Sie angesichts all dieser Frustrationen den Plan der USA und der Europäischen Gemeinschaft ein, gemeinsam ein neues internationales Atomforschungszentrum mit Filialen in Moskau, Arsamas und Tscheljabinsk im Ural zu gründen?
Jurij: Wir haben es uns abgewöhnt, Pläne vor ihrer Realisierung zu beurteilen. Und zwischen dem einen und dem anderen liegt gewöhnlich ein sehr langer Zeitraum.
Igor: Ich fände so etwas wichtig, um eine wirklich schnelle Vernichtung der im Lande lagernden Atomwaffen zu garantieren.
Das ist aber nicht das eigentliche Ziel.
Igor: Sondern uns eine Anstellung zu verschaffen? Aber vielleicht ist es für unser Land jetzt nicht das interessanteste Ziel, uns anzustellen. Vielleicht sollte ein hungerndes Land ganz andere Prioritäten haben als eine blühende Atomwissenschaft.
Wahrscheinlich wollen die USA und die EG die Erkenntnisse dieser Organisation nicht nur für dieses Land hier nutzen.
Igor: Da verzetteln sie sich nur. Sie sollten lieber ihren Einfluß gebrauchen, um die fürchterlichen Atomwaffen, die hier lagern, möglichst schnell aus der Welt zu schaffen.
Jurij: Natürlich verstehe ich, daß sie in uns eine billige Arbeitskraft wittern. Während ein Kollege von uns in den USA wohl mindestens seine 3.000 Dollar im Monat hat, freut sich unsereiner schon wie ein Honigkuchenpferd, wenn er zu seinen Rubeln 100 Dollar im Monat zusätzlich bekommt.
Valerij: Haben diese Leute im Westen denn eigentlich bedacht, daß in unserem Lande Gelder nur in sehr seltenen Fällen die erreichen, für die sie von auswärts eigentlich bestimmt waren?
Jurij: Ich glaube, das ist nicht die Art Hilfe vom Westen, die wir brauchen. Was wir wirklich bräuchten, wäre eine Armee von Psychologen, die uns von unserem langjährigen Größenwahn heilt. Bei uns fühlt sich noch immer jeder beliebige Wissenschaftsbürokrat als Akademiemitglied. In Wirklichkeit sollten wir alle einmal Abstand nehmen und dann ein Anwendungsgebiet für unsere realen Fähigkeiten suchen. Man sollte die hohen Ansprüche durch elementare Arbeitsbereitschaft ersetzen.
Igor: Wir wären bereit, zum Beispiel für die medizinische Industrie zu arbeiten, auch einen nicht allzu teuren Service für Bürger einzurichten, die einfach wissen möchten, wie hoch die Strahlenbelastung ihrer ganz persönlichen Umgebung ist, oder für Firmen zu arbeiten, die sich mit der Schließung oder Umwandlung von gefährlichen Atomkraftwerken beschäftigen.
Gibt es denn auch ungefährliche Reaktoren?
Jurij: Unter den Umständen der politischen Instabilität, in denen auch direkte kriegerische Handlungen in unserem Lande denkbar sind, bei alledem von der Ungefährlichkeit auch der besten Atomkraftwerke zu sprechen — das hieße natürlich, den Mund zu voll zu nehmen.
Valerij: Das Abfließen von Hirnen aus unserem Land wird in erster Linie davon abhängen, welche Bedingungen sich hier herauskristallisieren: Gibt es Hoffnungen für unser persönliches Leben, in der Politik und für die Wirtschaft? Falls sich da nur entfernt etwas Positives abzeichnet, wird es eine solche Massenflucht von Spezialisten aus unserem Lande nicht geben.
„Ich bin Patriot“
Jurij: Daß die Frage überhaupt gestellt wurde, hat allerdings den Prozeß der Selbsteinschätzung und -orientierung in der Welt unserer Wissenschaftler und Physiker beschleunigt. Falls aber unsere Physiker sich dennoch eines Tages zur Ausreise befleißigt sehen — zum Beispiel, um in einem Bürgerkrieg die eigene Haut zu retten —, so kann man sagen, daß nur ein verschwindend geringer Teil es auf sich nehmen wird, in Ländern der Dritten Welt mit totalitären Regimes zu leben.
Was wäre, wenn Sie mit all Ihren täglichen Frustrationen und Organisationsschwierigkeiten — in diesem Land zu einem ewigen mittleren Rang verdammt — sich in irgendeinem Land der Dritten Welt plötzlich als erstrangig beweisen könnten und dort als hervorragender Theoretiker arbeiteten? Und wenn man Ihnen dort solche Gehälter zahlen würde, von denen Sie hier nur träumen könnten? Und wenn all das Hinterherrennen hinter Instrumenten und Materialien aufhörte?
Valerij: Das sind sehr individuelle Fragen. Ich zum Beispiel bin in bescheidenem Maße Patriot. Ich würde sehr gern zu längeren Schnupperpraktiken nach Deutschland oder in die USA fahren, aber ich kann es mir in meinem Alter nicht mehr vorstellen, mich einer völlig fremden Lebenssphäre anzupassen.
Und wenn Sie eines Tages in Ihr Institut kommen und bemerken, daß ihr Arbeitsplatz durch irgendwelche dieser irrationalen Kürzungsmaßnahmen gestrichen wurde, was dann?
Valerij: Auch dann wäre das Auswandern nur eine der möglichen Optionen. Jemand, der die Dinge wissenschaftlich anpackt, kann in allen Bereichen von Nutzen sein. Leute, die denken, organisieren und arbeiten können, finden immer ein Aufgabenfeld.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen