: Ost und West in einem Boot
Besitzstandswahrung bestimmt weiter die geistige Verfaßtheit des Westens, das zeigt der aktuelle ÖTV-Streik. Doch um Beschränkungen kommen weder die Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer herum ■ VON GÜNTER NOOKE
Die aktuelle tarifpolitische Auseinandersetzung macht es überdeutlich: Die Konsequenzen der deutschen Einheit sind im Bewußtsein eines großen Teils, vermutlich sogar des überwiegenden Teils der westdeutschen Bevölkerung nicht präsent. Bei der Bewältigung der Einheit tun die Tarifvertragsparteien schlicht so, als hätte es nie eine Einheit gegeben. Der Streik im Öffentlichen Dienst ist ein vorerst letztes Beispiel dafür, daß nicht die Bereitschaft zum Teilen sowie der Mut, neue Wege zu gehen, sondern nach wie vor Anspruchsdenken und Besitzstandswahrung die geistige Verfaßtheit und das Handeln nahezu aller gesellschaftlichen Gruppen bestimmt.
Einige Zahlen können jedoch die aus der Sicht der öffentlichen Haushalte enorme Brisanz der finanziellen Folgen der Vereinigung verdeutlichen. Für 1992 geht die Deutsche Bundesbank von einem Transfer öffentlicher Mittel von West nach Ost in Höhe von 180 Milliarden DM, also 6,5Prozent des westdeutschen Bruttosozialprodukts aus, hierbei sind die Transfers von Post, Bahn und Treuhandanstalt nicht mitberechnet.
Bei einer realistischen Annahme über die für die kommenden Jahre zu erwartenden Wachstumsraten findet die vielbeschworene Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse auch in den neunziger Jahren längst noch nicht statt. Bis über das Jahr 2000 hinaus werden nach wie vor erhebliche öffentliche Mittel jährlich an die neuen Bundesländer fließen müssen, wenn man es mit der Angleichung ernst meint. Angesichts der 1991 von Bund und Ländern eingegangenen Steuereinnahmen in Höhe von 615,5 Milliarden DM wird der Spielraum deutlich, den die öffentlichen Haushalte haben. Insbesondere die anachronistisch agierenden Gewerkschaften haben offenbar noch nicht verstanden, daß wir finanzpolitisch in einem Boot sitzen.
Selbstverständlich spielt der neuzuordnende Länderfinanzausgleich eine zentrale Rolle bei der Lösung der Probleme. Bisher können die Länder nur über ihre Aufgaben und damit Ausgaben selbständig entscheiden. Ihnen müssen erheblich mehr Kompetenzen und damit auch Eigenverantwortlichkeiten bei den Einnahmen zugesprochen werden.
Eigenverantwortung und Ökologie
Vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Erfahrung mit zentraler Plan- und Staatswirtschaft muß eine moderne ostdeutsche Wirtschaftspolitik auf zwei grundlegenden Überlegungen aufbauen: Zum einen auf der liberalen Vorstellung, daß eigenverantwortliche Wirtschaftstätigkeit am ehesten die Entfaltung von individueller Eigeninitiative und wirtschaftlicher Effizienz gewährleistet. Zum anderen auf der durch die geführte Ökologiedebatte unmittelbar einleuchtenden Einsicht, daß individuelles Handeln sich heute nur noch unter Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher, einschließlich ökologischer Belange vollziehen kann.
Deshalb kommt der Verteilung von Eigentum eine zentrale Bedeutung zu. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen müssen dafür sorgen, daß es möglichst vielen Menschen möglich ist, Eigentum zu erwerben. Hierdurch wird eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung bei gleichzeitig breiter Einkommensverteilung in Gang gesetzt. Konkrete Schritte vollziehen sich beispielsweise innerhalb einer aktiven Mittelstandspolitik, der Förderung von Gründungsaktivitäten, aber auch durch die Bildung eigenständiger kommunaler Stadtwerke, deren Versorgung der Endverbraucher mit Energie nicht selten der der großen westdeutschen Energieversorgungsunternehmen vorzuziehen ist.
Die gegenwärtige Privatisierungspolitik der Treuhand führt an dem Ziel einer breiten Eigentumsstreuung vorbei. Trotz der in vielen Gefällen hohen zukünftigen Gewinnerwartung sind für die Treuhandunternehmen im Durchschnitt relativ niedrige Kaufpreise zu zahlen. Die Käufer kommen in der überwiegenden Anzahl der Fälle aus Westdeutschland, so daß überhaupt nicht ausgeschlossen ist, daß sich in den neuen Ländern eine größere Konzentration des Produktivvermögens herausbilden wird als im Westen der Republik.
Die Treuhandanstalt wird oft zu Recht kritisiert. Die Forderung nach einer Modifizierung des Treuhandauftrages ist berechtigt. Dennoch muß zur Kenntnis genommen werden, daß die „Filetstücke“ und die Mehrzahl der gewinnversprechenden Unternehmen schon längst ihre Käufer gefunden haben. Auf der Grundlage der noch nicht privatisierten Betriebe wird es ungleich schwieriger — in welcher Konstruktion einer Sanierungs- und Privatisierungsanstalt auch immer —, die ostdeutsche Bevölkerung an der Bildung von Produktivvermögen zu beteiligen.
Reinvestition: Stiftung „Startkapital“
Deshalb sollte eine Strategie verfolgt werden, die sich direkt an die beiden Arbeitsmarktparteien wendet. Die Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen ihre gesamtwirtschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Es ist unstrittig, daß vor allem westdeutsche Unternehmen vom Fall der Mauer enorm profitiert haben. Notwendig ist die Ingangsetzung von Mechanismen, die dazu führen, daß diese Gewinne in den neuen Bundesländern auch wieder investiert werden. Die Reinvestition erzielter Gewinne muß attraktiver sein, als deren Verwendung in anderen Anlagemöglichkeiten.
Ein konkreter Schritt wäre die Gründung einer Stiftung „Startkapital“, welche in Anknüpfung an Artikel155 der Weimarer Verfassung Gründungswilligen zinslose Darlehen gewährt. Eine wichtige Finanzierungsquelle entstünde aus der teilweisen Abschöpfung von Spekulationseinkommen, die aus der Wertsteigerung von Grund und Boden resultieren, ohne daß dieser von den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital produktiv bearbeitet wird. Zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten können sich durch die Abschöpfung weiterer leistungsloser Einkommen ergeben.
Die Arbeitnehmerseite sollte grundsätzlich auf Reallohnzuwächse, die über den Zuwachs der Arbeitsproduktivität hinausgehen, verzichten. Ein genereller Reallohnstopp oder im Einzelfall eine Nullrunde für Nominallöhne dürfen keine Tabuthemen sein. Flexible und differenzierte Formen von Tarifabschlüssen sind das Gebot der Stunde. Zu nennen wären beispielsweise eine weitere Differenzierung der Löhne in Abhängigkeit von der Qualifikation, Branche oder Region, sowie die Vereinbarung von Investivlöhnen, wo Betriebe mit einem überschaubaren Kapitalrisiko bestehen. Weitere individuelle Arbeitszeitverkürzungen sollten dort in Erwägung gezogen werden, wo Kompensationsmöglichkeiten durch längere Betriebszeiten möglich sind.
Nullrunden kein Tabuthema?
Die aktuellen Reallohnforderungen der westdeutschen Gewerkschaften gehen eindeutig über den Zuwachs der Arbeitsproduktivität hinaus. Das hätte in der Tat negative Konsequenzen für die gesamtwirtschaftlich notwendige und gewollte Umverteilung von West nach Ost. Zudem entsteht zwangsläufig ein Druck auf die ostdeutschen Gewerkschaften, zweistellige Lohnsteigerungen zu fordern, um der sich drohenden Öffnung der Einkommensschere zwischen Ost und West entgegenzuwirken.
Die Arbeitsvoraussetzungen und Entlohnungsbedingungen in der ehemaligen DDR entsprechen in vielen Bereichen noch nicht annähernd westlichen Verhältnissen. Weiterhin wird für 1992 mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit von 0,4 Millionen auf dann 1,3 Millionen Erwerbslose gerechnet. Vor allem die ostdeutschen Kommunen müssen in einem noch nie dagewesenen Umfang öffentlich Bedienstete entlassen, da ihre ansonsten völlig überschuldeten Haushalte vor dem zuständigen Landesinnenminister als Aufsichtsbehörde nicht bestehen können.
Aus dieser spezifischen Ost-Perspektive ist es nicht nachvollziehbar und nur noch mit der Grundhaltung einer ich-zentrierten Besitzstandswahrung bei gleichzeitiger Verkennung der Realität erklärbar, daß die ÖTV seit 18 Jahren zum ersten Mal wieder streikt. Die näheren Umstände in der Metallindustrie lassen vermuten, daß es zu ähnlichen Ergebnissen auch hier kommen wird. Wirtschaftspolitische Vernunft und die Anerkenntnis der sich gegenüber den 70er und 80er Jahren geänderten Verhältnisse gebieten es, daß sich die Tarifkontrahenten unverzüglich wieder an den Verhandlungstisch setzen und zu tragfähigen Ergebnissen kommen.
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