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Kanadas Identitätskrise

■ Die Unruhen in Toronto nähren Ängste vor einer US-Amerikanisierung

Kanadas Identitätskrise Die Unruhen in Toronto nähren Ängste vor einer US-Amerikanisierung

Hätten die vergleichsweise unerheblichen Unruhen von Toronto in den USA stattgefunden — keine internationalen Medien würden darüber berichten. Da es sich um Kanada handelt, sind sie eine Sensation. Aber warum ist Kanada, Einwanderungsland und multikultureller Schmelztiegel wie die USA, so friedlich?

Historisch definiert sich die ehemalige britische Kronkolonie seit jeher als Gegenpol zu den USA. In den letzten Jahrzehnten bezieht sich die kanadische Identität auf die Existenz eines ausgebauten Sozialstaates, der Massenarmut und soziale Spannungen verhindern soll — Kanada gleichsam als das Skandinavien Amerikas. Ernsthaft in Frage gestellt wurde dieses Selbstbild zuerst durch die Wahl einer konservativen Regierung im Jahre 1984, mit einem Premierminister, der sich als Ronald Reagans kleiner Bruder verstand, und dann 1989 durch die Unterzeichnung des US-kanadischen Freihandelsabkommens, das innerhalb von zehn Jahren die Zollgrenzen zwischen beiden Staaten abschaffen und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum herstellen soll. Seitdem wird die Identitätskrise Kanadas von neuem akut — ein Prozeß, der durch die neu aufflammende Militanz der frankophonen Bevölkerung Quebecs und der indianischen und Inuit-Urbevölkerungen zusätzlichen Auftrieb erhält.

Für die USA ist der kanadische Sozialstaat nichts als eine Wettbewerbsverzerrung — was erklärt, warum seit 1989 die US-Zölle auf kanadische Importe eher gestiegen sind. In Kanada hat diese Sichtweise zur Folge, daß die Verteidigung sozialer Errungenschaften mit einem anti-US-amerikanischen Nationalismus einhergeht, der die drohende Abspaltung Quebecs genauso als Beitrag zum Untergang des Landes fürchtet wie die Einfuhr kalifornischer Polizeipraktiken. Das Freihandelsabkommen, so warnt diese Denkrichtung, zerstört über kurz oder lang Kanadas eigenständige Kultur; die einzelnen Bundesstaaten — Quebec voran — werden sich irgendwann als „Neue Länder“ den USA anschließen.

Politische Hauptvertreter dieser anglo-kanadischen Besitzstandsverteidigung sind die oppositionellen „Neuen Demokraten“ (NDP), die im größten Bundesstaat Ontario — Hauptstadt: Toronto — die Landesregierung stellen. Ausgerechnet sie sehen sich nun mit der „US-Amerikanisierung“ ihrer Gesellschaft konfrontiert, vor der sie selbst immer warnten. Ihren Kulturpessimismus können sie jetzt mit einiger Berechtigung gegen das konservative „Rollback“ aus Ottawa und Washington richten.

Doch bietet sich damit gleichzeitig der umgekehrte Schluß an. Könnte Kalifornien nicht von Kanada lernen? Wäre den Übeln der „Great American Cities“ nicht durch Versozialstaatlichung beizukommen? Jetzt müßte sich ein Präsidentschaftskandidat finden, der Staat und Unternehmer dazu bringt, die angeblich gigantischen Wachstumsgewinne aus dem Freihandel in die Modernisierung der amerikanischen Städte und der physischen wie sozialen Infrastruktur der USA zu investieren. Angesichts der drohenden kulturellen wie politischen Zersplitterungen Nordamerikas wäre dies zugleich ein Beitrag zur Versöhnung. Dominic Johnson

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