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Die Geisterstunde

Agnès Varda hat die Kindheitserinnerungen ihres Mannes Jacques Demy verfilmt  ■ Von Christiane Peitz

Die kleine Tänzerin ist eine Puppe aus Pappkarton. Sie hebt ein Bein, klack, ein Bild. Der Dirigent hebt den Taktstock, klack, ein Bild. Die Tänzerin beugt sich vor, klack, setzt zur Drehung an, klack, der Dirigent senkt sein Stöckchen, klack, klack, zwanzig Bilder in der Minute, jedes Bild von Hand gebastelt, gestellt und gefilmt. Und jeder Einstellung folgt eine Umdrehung mit der Handkurbel seitlich der Kamera — Kino ist Arbeit. Eine Arbeit von aufwendiger Präzision, die Geduld erfordert und handwerkliches Geschick. Von wegen Glamour. Der Regisseur erinnert sich: „Jedesmal, wenn ich Bild für Bild drehte, machte ich das Licht 20 Mal in der Minute an und aus; dafür waren aber unsere Sicherungen nicht geeignet, und so flackerte das Licht im ganzen Haus, bis es immer schwächer wurde und wir fast im Dunkeln saßen. Mein Vater sagte dann zu mir: ,Du wirst nicht eher Ruhe geben, bis du die ganze Elektrik auf dem Gewissen hast.‘“

Auch die Kulissen des nächsten Films sind aus Pappkarton. Immerhin trägt er schon einen richtigen Titel: Attaque Nocturne verfolgt einen Handtaschendieb auf der Flucht durch nächtliche Gassen, bis der Gauner in einen Gulli steigt, und enthält, kleine Sensation, einen klassischen Zoom. Zu diesem Zweck bindet der Filmemacher die Minikamera auf einem Rollschuh fest, bastelt mit Hilfe eines Kinderbaukastens eine Schräge, installiert darauf den Kamera-Schuh und läßt ihn durch einen aufgespulten Bindfaden Zentimeter für Zentimeter die Schräge hinabrollen. Grandioses Finale: das Gesicht des Diebs, bevor er in der Kanalisation verschwindet, in Großaufnahme.

Der Regisseur: Jacques Demy. Sein Alter: 15, 16 Jahre, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Autodidakt wurde später einer der populärsten Filmemacher Frankreichs. Sein berühmtestes Werk: Die Regenschirme von Cherbourg, eine melodramatische Filmoper, in der die junge Catherine Deneuve verliebt und singend durch den Regen läuft. Ihr Verehrer ist Autoschlosser — doch das ist eine andere Geschichte. Oder vielleicht auch nicht: Jacquot de Nantes, die von Agnès Varda verfilmte Kindheitserinnerung ihres Ehemanns Jacques Demy, konstatiert, daß die eine die andere evoziert hat. Demys Vater war Autoschlosser; der Junge wuchs zwar in einer ärmlichen Welt auf, in der die vierköpfige Familie neben der Werkstatt in zwei Zimmern hauste, und in der, bei der Arbeit und auch während des Kriegs, ständig Chansons und Operettenmelodien geträllert wurden. Daher die Filmoper.

Jacquot, könnte man meinen, hatte trotz Krieg, Armut und Widerstand des Vaters gegen die Kinoleidenschaft des Sohnes eine glückliche Kindheit: mit Kasperletheater, fröhlichen Eltern, Schwimmen in der Loire und Alliierten, die mit Fallschirmen am Flußufer landen — wie Wesen von einem anderen Stern. Aber das stimmt nur auf den ersten Blick; Glück oder Unglück interessieren nicht in diesem Film. Denn Agnès Varda, die sich in ihren Arbeiten (Cleo de 5 a 7, Vogelfrei, JaneB. par AgnèsV.) schon immer sehr genau Rechenschaft ablegte über das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion, von Filmemacher und Publikum, hat nicht einfach den Erzählungen ihres Mannes folgend dessen Kindheit rekonstruiert. Zu genau weiß sie: Es sind Erinnerungen. Da wird geflunkert, erfunden und schöngefärbt, und man merkt es nicht einmal. Deshalb spricht nicht Demy aus dem Off, sondern sie selbst. Der Arbeitstitel von Jacquot de Nantes hieß Evocation: eine Heraufbeschwörung. Geisterstunde.

Agnès Varda macht die Geister sichtbar. Sie stellt Familienszenen nach, blendet über in Demy-Filmausschnitte, und wenn etwas für den Jungen besonders aufregendes geschieht, wechselt sie von Schwarzweiß in Farbe. Etwa beim Besuch der Tante aus Rio, einer phantastisch-exzentrischen Gestalt, die aus einer Limousine auf die Gasse vor der Autowerkstatt hinabsteigt und die Demys ins Kasino zum Essen einlädt. Ein Hauch von Hollywood. Schnitt: Jeanne Moreau, Die blonde Sünderin (Demy, 1962), in derselben Szene im Kasino von Monte Carlo.

Jacquot de Nantes als dokumentarische Fiktion zu bezeichnen, träfe den Sachverhalt ebenfalls nur ungenau. Zum einen ist das Nachgestellte häufig identisch mit dem Original. Zum Beispiel in der Garage, die seit den 30er Jahren bis heute in Betrieb ist. Als das Filmteam den für die Dreharbeiten technisch günstigsten Platz für den Unterstand — dort, wo die Mechaniker sich unter die Autos legen — ausgemacht hatte und zu graben begann, stieß es nach wenigen Spatenstichen auf die Grube von damals. Und auf dem Dachboden fand sich unter anderem das Handbuch für den Amateurfilmer, mit dessen Hilfe sich Jacquot das Filmemachen beigebracht hatte. Dennoch spart Varda nicht mit Hinweisen darauf, daß diese Identität durch Rekonstruktion zustandekam. Daß es eine winzige Differenz gibt. Drei Jungen, von zehn bis 18, spielen Jacquot; die Wechsel von einer Gestalt zur nächsten sind unübersehbar. Ein dezenter Trick, genau wie der mit Schwarzweiß und Farbe.

Jacques Demy ist tot. Bei den Dreharbeiten zu Jacquot de Nantes war er bereits schwerkrank; beide wußten, er wird sterben. Den fertigen Film hat er nicht mehr gesehen. Aber er hielt sich, solange es ging, auf dem Set auf und half bei der Rekonstruktion seiner 7-mm(!)-Filme, beim Drehbuchschreiben. Der Film erwähnt seinen Tod mit keinem Wort. Dennoch kann man das Sterben sehen. Agnès Varda hat ihren Mann am Strand gefilmt, allein, ohne Team. In extremen Nahaufnahmen sieht man seine Hand im Sand liegen, die alte, kranke Haut, Poren, Runzeln, Härchen, Bartstoppeln. Für kurze Momente ist Jacquot de Nantes nicht nur eine Hommage an jenen kinosüchtigen Jungen von damals, sondern auch intimer Augenblick zwischen den langjährigen Eheleuten.

Fast erschrickt man über die Erlaubnis, dieser Nähe beiwohnen zu dürfen. Fast vergißt man, wie sehr auch diese vermittelt ist. Denn so schlicht, wie die Geschichte dieses Films auf den ersten Blick wirkt, so raffiniert ist sie doch strukturiert. Für Nahaufnahmen wie die der Hand sind Spezialkameras nötig, technischer Aufwand. Das Ergebnis sind Bilder von experimentellem Charakter, die überdies immer wieder in ein Zeichen verwandelt werden: Jedesmal, wenn Jacquot von Heute nach Früher springt oder von Kindheitsszenen zu Filmausschnitten, erscheint das Schild der „Garage Demy“; darauf ist eine Hand gezeichnet, die mit dem Finger auf den Eingang weist. Typisch Varda. Zugleich jedoch bewirken die Kunstbilder vom Körper als Landschaft beim Zuschauer eben jene Gemütsbewegung, mit der die singende Catherine Deneuve in Die Regenschirme von Cherbourg halb Frankreich zu Tränen gerührt hatte. Typisch Demy. Vardas Filme setzen auf die Mündigkeit des Publikums und wahren eine gewisse Distanz; Demys Filme setzen auf Identifikation: Jacquot de Nantes vereint die vermeintlichen Gegensätze — die vielleicht schönste Liebeserklärung einer Filmemacherin an ihren Mann.

Agnès Varda: Jacquot de Nantes. Nach den Erinnerungen von Jacques Demy. Kamera: Patrick Blossier, Agnès Godard, Georges Strouve, mit Philippe Maron, Edouard Joubeaud, Laurent Monnier, Jacques Demy u.v.a, Frankreich 1991, 120Minuten. Wegen Vardas Stimme sollte man sich unbedingt die untertitelte Fassung ansehen.

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