: An Fassaden tobt der Parolenkrieg
■ Serie: Berlin vor den Kommunalwahlen (Teil 20)/ Erstmals treten in Lichtenberg die »Republikaner« und »Die Nationalen« an/ Fraktionsgemeinschaft von SPD, CDU und Bündnis 90
Lichtenberg. Bröckelnde Fassaden, verwaiste Fabrikhallen, ausgebrannte Autowracks auf dem Bordstein. Lichtenbergs Industriegebiet Herzbergstraße ist ein Ort der Depression und stummen Anklage. Dabei ist es noch gar nicht lange her, daß die Arbeitermassen hier durch die Werktore strömten, über denen sich bekannte Namen wie Elektrokohle, Autotrans und B-Stahl in verwitterter Leuchtschrift erhoben. Als die Mauer fiel, waren in dem Industriegebiet 18.000 Menschen beschäftigt. Heute sind es nur noch etwa 3- bis 5.000. Allein bei Elektrokohle mußten von 2.500 Arbeitern 2.200 gehen. Im Kulturhaus des unter Treuhandverwaltung stehenden Betriebes, in dem die Westberliner Band »Einstürzende Neubauten« kurz nach der Wende zum ersten Mal vor DDR-Fans spielte, befindet sich heute ein Teppich-Großmarkt.
Die Arbeitslosenquote im 170.000 Einwohner zählenden Bezirk Lichtenberg wird auf 30 Prozent geschätzt, Null-Kurzarbeiter und Umschüler mitgerechnet. Stärkste Partei der BVV ist die PDS mit 39 Sitzen. Lichtenberg wird von einer Fraktionsgemeinschaft der SPD, CDU und dem Bündnis 90 regiert. Die SPD hat vier Stadtratsposten, Gesundheit, Bau, Jugend, Kultur, und stellt den Bezirksbürgermeister Christan Kind. Das Bündnis 90 hat den Sozial- und die CDU den Finanzstadtratsposten inne.
Der Bezirk hat viele Gesichter. Im Süden, Osten und Norden verströmen uniforme Plattenhochhaussiedlungen Tristesse, in denen viele Ex- Mitarbeiter des MfS wohnen. In den Altbausiedlungen, zum Beispiel rund um den Bahnhof Lichtenberg, sind vor allem Arbeiter zu Hause. Statt eines historisch gewachsenen Zentrums hat Lichtenberg mehrere Kiezzentren.
Nördlich der Frankfurter Allee nimmt die Plattenbaufestung des ehemaligen Stasi-Ministeriums ein riesiges Karree an der Rusche-/Ecke Normannenstraße ein. Neben der Reichsbahn residieren hier das Finanz- und Arbeitsamt sowie zahlreiche Initiativgruppen zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte und SED- Verbrechen. An den Fassaden tobt der rechte und linke Parolenkrieg: »Rache für Kaindl«, »Wählt Die Nationalen« wird zwischen Hakenkreuzen gefordert. »Nazis raus« kontern andere.
Wie das angrenzende Marzahn und Hohenschönhausen gilt Lichtenberg als Hochburg der Skinheads, sie machten hier in den letzten Wochen zum Glück aber kaum Schlagzeilen. Obwohl sämtliche elf Jugendklubs des Bezirks erhalten wurden, ist das Freizeitangebot dürftig. Der Sozialdiakon Michael Heinisch, der in der Pfarrstraße ein Bauprojekt für Lichtenberger Jugendliche macht, zu denen auch Skinheads gehören und frühere Anhänger der rechtsextremen NA, bedauert, daß sich im Bezirk kaum jemand für eine Erweiterung des Kulturangebots engagiert. Im Neubaugebiet Friedrichsfelde spezialisierten sich Jugendgruppen aus Langeweile und Abenteuerlust auf das Knacken von Opel-Fahrzeugen. Aber auch untereinander machen sich die Jugendlichen das Leben schwer. In der Pfarrstraße, wo noch vier Häuser besetzt sind, tobt seit über einem Jahr ein erbitterter Kleinkrieg zwischen den Besetzern und den Jugendlichen des Heinisch-Projekts. Statt gemeinsam für den Erhalt der jeweiligen Projekte zu kämpfen, können es die linken Hausbesetzer einfach nicht verknusen, daß im Heinisch-Projekt rechte Jugendliche tätig sind.
Im Wahlkampfprogramm der Parteien steht die Arbeitslosigkeit im Vordergrund. Alle Fraktionen der BVV sind sich darin einig, daß das Industriegebiet Herzbergstraße als Gewerbegebiet erhalten bleiben muß und dort auch kleine und mittlere Betriebe angesiedelt werden sollen. Der Bürgermeister Christian Kind (SPD) ist davon überzeugt, daß sich für die Großbetriebe Investoren fänden, wenn diese zuvor von der Treuhand saniert würden. »Die Belegschaft ist ja schon runtergeschraubt worden.« Die Zusammenarbeit mit Bündnis 90 und der CDU in der Fraktionsgemeinschaft bezeichnet der Bezirksbürgermeister als »sehr gut« und ist im Gegensatz zum Bündnis 90 an einer Fortsetzung interessiert. Was den Senat von Berlin angeht, ist Kind jedoch »immer ein Gegner der Großen Koalition gewesen«. Der Senat schlage sich nur auf Nebenkriegsschauplätzen herum. Er streite über Fragen wie: »Sollen die Autos um das Brandenburger Tor herum fahren oder mitten durch?«, statt Grundsatzentscheidungen über die Verbesserung der Verkehrswege zwischen Ost und West zu fällen. Für den Spitzenkandidaten der CDU, Heinz-Lothar Rosengarten, ein gelernter Schlosser, stehen in Lichtenberg die Verkehrsprobleme und die Sicherheit im Vordergrund. Die Losung, »wer Straßen sät, wird Autos ernten«, findet er »Quatsch« und fordert mehr private Parkplätze. Auf eine weitere Zusammenarbeit mit dem Bündnis 90 legt Rosengarten keinen Wert.
Auch beim Bündnis 90 ist die Bereitschaft zur Fortsetzung der Fraktionsgemeinschaft nicht sonderlich groß. »Die Zusammenarbeit mit der CDU und der SPD war sehr mangelhaft«, sagt der Bezirksverordnete Werner Calin, von Beruf Graphiker. 1990 habe man sich dazu auch nur entschlossen, um ein »stabiles Bezirksamt« zu gewährleisten. Besonders übelgenommen hat Calin der CDU und SPD, daß das geschichtsträchtige Kampfgruppendenkmal abgerissen wurde.
Bündnis 90 kandidiert am 24. Mai erstmals zusammen mit den Grünen auf einer Liste. Beide Parteien wollen sich für die Schließung der umweltbelasteten Betriebe und Ansiedelung von umweltfreundlichem Gewerbe stark machen. Auch die Erweiterung des Kulturangebots gehört zu den Schwerpunkten. Der Spitzenkandidat der Grünen, Andreas Passarge, Krankenpfleger und Theologe, hält den Müll für Lichtenbergs größtes Problem. Es müßten endlich Receycling-Tonnen her. Für die kürzlich beschlossene Schließlung der Lichtenberger Müllverbrennungsanlange Ende 1992, so Passarge, »haben wir zwei Jahre gekämpft«. Passarge ist strikter Gegner einer Fraktionsgemeinschaft mit SPD und CDU. Er kreidet den Parteien unter anderem an, daß sie den fränzösischen Widerstandskämpfer Jaques Duclos zugunsten des preußischen Generalfeldmarschalls Möllendorff von den Straßenschildern strichen.
Die PDS tritt mit der Fachärztin für Kinderheilkunde, Gabriele Majewski, die Gesundheitsstadträtin werden möchte, als Spitzenkandidatin an. Kommunale Selbstverwaltung, bezahlbare Wohnungen, gesunde Umwelt und ein toleranten Umgang miteinander sowie Offenheit für andere Kulturen sind die Losungen im Wahlkampfprogramm.
Die große Frage in Lichtenberg ist, wie die Rechten bei den Wahlen abschneiden werden. Erstmals treten hier die »Republikaner« und die »Freie Wählergemeinschaft Die Nationalen« an, deren geplante Kundgebung am 9. Mai vor dem Kapitulationsmuseum im Lichterberger Villenviertel Karlshorst vom Polizeipräsidenten verboten wurde. Plutonia Plarre
Fortsetzung nächsten Dienstag
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