KOMMENTAR: Kohl, der Verkannte
■ Zur Stimmungslage der Nation und ihres Kanzlers
Realitätsverlust begleitet den Weg in die persönliche Krise. Auf seiner gestrigen Pressekonferenz in Berlin sah Helmut Kohl sich nicht von brennenden politischen und ökonomischen Problemen umstellt, sondern lediglich von vorübergehenden, noch dazu vermeidbaren „Turbulenzen“. Der Bundeskanzler glaubt Opfer eines „allgemeinen, jammervollen Geredes“ zu sein. Die permanente Wehklage sieht er mittlerweile als einen von den Medien hingebungsvoll gepflegten Dauerzustand des deutschen Gemüts an. Gegenüber dieser Geisteshaltung gelte es, am festgelegten Kurs der deutschen wie der europäischen Einigung festzuhalten, nüchtern seine Pflicht zu tun, „die Hausaufgaben zu machen“, wie es im autoritär-kindlichen Jargon der Bonner Politik heißt.
Der Bundeskanzler ist ständig jovial und ständig beleidigt. Er fühlt sich absichtsvoll verkannt. Seine Gegner zeihen ihn der Dickfelligkeit und Entschlußschwäche, wo er nur Beharrlichkeit und die kluge Umsicht des Hausvaters walten sieht. Mit affirmativen Wendungen wie „Ich weigere mich“ oder „Ich denke nicht daran“ sucht er den Eindruck politischer Entschiedenheit zu vermitteln. „Das Kabinett zeichnet sich immer dann, wenn der Kanzler seine Meinung kundtut, durch große Einmütigkeit aus.“ Dies sagt jemand, mit dem der Koalitionspartner noch keine Woche vorher beliebig Schlitten gefahren ist.
Einem solchen Denken kann der Ruf nach der Großen Koalition nur als politisches Manöver erscheinen. Seine Regierung, so Kohl, solle als so asthmatisch vorgeführt werden, daß nur der Griff nach der von den Sozialdemokraten bedienten Sauerstoffflasche übrigbleibe. Aber Kohl sieht seine Koalition als stabil an — und er ist Vorsitzender seiner Partei. Letzterer Hinweis gilt möglichen Verrätern in der eigenen Fraktion.
Eitle Hoffnung auch nur auf den Schatten der Nachdenklichkeit und des Selbstzweifels! Statt dessen anmaßende, die Vertreter anderer europäischer Staaten kränkende Selbstgefälligkeit — und der große historische Gestus. Falls nichts übrigbleiben sollte, als der neuen deutschen Misere mit einer Konzentration der politischen Kräfte zu begegnen — dann nur ohne diesen Kanzler. Christian Semler
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