piwik no script img

"Nett hier in Amsterdam"

■ Noch nie fuhren so viele Rad wie in dieser Woche/ Ein Leidensbericht: Autos bremsen Radler aus

Selten zuvor waren in der Berliner Innenstadt so viele vom Fahrrad und Verkehr gänzlich überforderte Menschen zu beobachten, die sich ab und an verschämt in ruhige Eckchen zurück- und den Stadtplan zu Rate zogen. Flickzeug und Luftpumpen waren seit Beginn des BVG-Ausstandes am Montag absolute Verkaufsrenner, ein pfiffiger Händler wirbt für sein »Streik-Bike«. »Goldelse« am Großen Stern beobachtet nachmittägliche Staus auf den Fahrradwegen, und auf dem Ku'damm bilden neben Tauben und fotografierenden Japanern auch die Radfahrer Rudel. »Nett hier in Amsterdam«, begrüßen Studenten einander in Nähe der FU und bilden willkürliche Fahrgrüppchen auf dem Südwestkorso. Die Ströme der Berufsverkehr-Radler haben beinahe den Charakter einer Volkssport-Veranstaltung.

Außer auf der Berliner Vorzeige- »Veloroute« in Wilmersdorf läßt es sich allerdings nur selten gefahrenfrei strampeln, wie zahlreiche Neu- Radler seit Wochenbeginn feststellen müssen. Allein der Weg von eben jenem Nobelpfad über die Bundesallee in Richtung Zoo ist nur mit stahlharten Nerven und ebensoguten Bremsen zu bewältigen, soll die Fahrt nicht unter einem abbiegenden Auto enden oder das Tempo einer Fußgängerin im Rentenalter unterschreiten.

Nach wie vor haben die meisten Autofahrer noch nicht davon gehört, daß Straßen auch von Radwegen gekreuzt werden. Die Überquerung bei Rot erscheint daher — wenngleich furchtbar verboten — vielen Radfahrern als sicherer. Doch damit setzen sie sich dem Vorwurf des Rowdytums aus, den Autofahrer gerne aufgreifen, bevor sie die Radler zum Abschuß freigeben. Anders ist es kaum zu erklären, daß sich Autofahrer beharrlich weigern, beim Verlassen einer Ausfahrt schon vor dem Fußweg zu bremsen und einen Blick nach links zu werfen.

Uns Fahrradfahrern wird auch ewig ein Rätsel bleiben, warum die Autoreifen vor Ampeln immer den rechten Bordstein berühren müssen. Im Vergleich zu den Autofahrern aber, die ihre Tür nur dann öffnen, wenn garantiert ein Fahrradfahrer von hinten naht, ist dieses Durchfahrthindernis vor Ampeln geradezu liebenswert. Den Pedaltretern bleibt an Kreuzungen nur die Wahl der Qual: frontal gegen eine mit Rallye- Streifen verzierte Manta-Tür oder doch lieber nach links unter den 14-Tonner?

Zu den neuen Leiden der jungen Radler gehören seit dem Arbeitskampf der ÖTV aber auch die Fußgänger. Sie haben in ihrer Mehrheit ebenfalls noch nicht mitbekommen, daß der Bürgersteig an Ampeln nicht erst am Bordstein endet. Nein, liebe Fußgänger, die rote Farbe auf dem Boden dient nicht der Belustigung, sie kennzeichnet einen Fahrradweg.

Aber eigentlich lohnt es kaum, sich über das Verhalten auf Radwegen auszulassen, so viele gibt es in Berlin schließlich nicht. Im Normalfall führt der Weg zwischen Bordsteinkanten und Autos hindurch, über Schlaglöcher und Kanaldeckel, Hundehaufen und an den Rand gefegte Glasscherben, die den Autoverkehr behindern könnten.

Ein besonderes Vergnügen bieten die Straßen im Ostteil: das Kopfsteinpflaster in Pankow und Prenzlauer Berg gerbt unsere Gesäßflächen, die den Lederärschen von Pavianen gleichen. Das Handzeichen zum Abbiegen ist dort völlig unmöglich — der Straßenbelag risse einem unweigerlich den Lenker weg. Im Ostteil empfiehlt es sich noch stärker als anderswo, einfach gar nicht abzubiegen, sondern stoisch geradeaus zu fahren.

Immer wieder witzig ist für Hartgesottene auch das Linksabbiegen auf der Leipziger Straße in Richtung des früheren Checkpoint Charlie: Gerne und lange beweisen Autofahrer dann den Spurwechslern, daß auch ihr Wagen über eine prima funktionierende Hupe verfügt.

Das besondere Schmankerl ist und bleibt aber die abendliche Fahrt durch die Oranienburger Straße: Wegen des Straßenstrichs schleichen die Autofahrer unkonzentriert und möglichst nah an den parkenden Autos entlang, was die Radspur auf ein Minimum reduziert. Dort stehende Damen beenden dann auch diese Fahrt, die Herren lenken ihr Auto noch ein bißchen weiter nach rechts, und die Fahrradfahrer machen endgültig die Schwalbe über den Lenker zum Bordstein. Christian Arns

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen