KOMMENTAR: Verkehr verkehrt
■ Streik und Menschenkette: Traum der autofreien City
Haben nur die mit Autos bewaffneten Mitmenschen den jetzt zu Ende gegangenen BVG-Streik heil überstanden? Auf den ersten Blick sieht es so aus. Doch unter der Oberfläche grummelt es immer vernehmlicher, immer heftiger gellen die Schreie von abgasvergifteten RadlerInnen und fast überfahrenen FußgängerInnen durch die Straßen: »Scheiß Autofahrer!« In manchen Kreisen konnten sich bekennende BlechkistenbewohnerInnen — denn um solche handelte es sich im Dauerstau — nicht mehr blicken lassen, ohne ausdauernd als Spießer und Umweltsäue beschimpft zu werden. Gleichzeitig sorgte die kollektive Erfahrung der Stadt durch die sonst so einsamen RadlerInnen für eine früher nicht bekannte Massenproduktion utopischer Träume von der autofreien Stadt. Wie bei der Golffahrerin, die beim Streik auf das Bike umsattelte und den Dauerterror durch die Autos nicht mehr vergessen will. Oder dem älteren Kioskbesitzer, der sich nach 35 Jahren das erste Mal aufs Rad setzte und dabei bleiben will. Und da sind die jungen Besitzlosen in der Klassengesellschaft der Autoklassen, die sich einen Streik der Tankstellenbesitzer herbeisehnen: »Dann wird es hier endlich wie in Peking.«
Dennoch bietet der morgige, von zahlreichen Verkehrs- und Anwohnerinitiativen organisierte »autofreie Sonntag« die beste Gelegenheit, diese mit neuem Pedal-Schwung versehenen Träume auch gleich praktisch umzusetzen: ab 14 Uhr Straßenfeste auf dem Innenstadtring, ab 15 Uhr Fahrradkorso, ab 18 Uhr Menschenkette. Ironie des Schicksals, selbst der ADAC leistet Schützenhilfe: Wegen eines Autorennens wird die Avus morgen gesperrt. Wäre das nicht eine wunderbare Lösung: Die unheilbar an Bleifuß und Potenzproblemen erkrankten AutofahrerInnen erhalten die Avus als Rase-Reservat, während die City bis auf Busse, Taxis und Warenverkehr auto- und abgasfrei bleibt. Ute Scheub
Siehe auch Seite 40
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