Nation: ja. Staat: nein

Die Roma und Sinti fordern Welt-Bürger-Rechte. Anerkennung als „nicht-territoriales Volk“ oder als „nationale Minderheit“?  ■ VON M. FROST, S. HEIMANNSBERG UND R. HERDING

Freies Kurdistan, unabhängiges Palästina, selbständiges Bosnien — überall werfen Kämpfe gegen die nationale Unterdrückung die bange Frage auf, wie sich denn die Selbstbestimmungsrechte verschiedener Völker miteinander vertragen. Chauvinistische Verblödung, Bevölkerungs-„Austausch“ und Massenvertreibung oder lang andauernder Bürgerkrieg scheinen die notwendigen Konsequenzen. Die Völker leben nun mal nicht in „ethnisch reinen“ Territorien, sondern gründlich durcheinander, vor allem in städtischen Gemengelagen.

Daß nicht ein Recht das andere ausschließt, daß universelles Zusammenleben möglich ist, ohne daß darum die Nation zur Schnapsidee degradiert wird, zeigen die Roma. Sie versuchen, als Nation anerkannt zu werden, ohne ein Heimatland, ein „Romanistan“, anzustreben, das andere ausgrenzt. Als zum Wandern gezwungenes Volk hätten sie selbst von einer Separation den größten Schaden. Mit ihrer Idee von der „tragbaren Heimat“ betreten sie Neuland, setzen sich nach außen wie nach innen größten Schwierigkeiten und Kontroversen aus.

Die Öffentlichkeit täte gut daran, den Roma als Hoffnungsträgern eines Nationalbewußtseins, das nicht ausgrenzt, alle Aufmerksamkeit zu schenken.

„Heimat, die wir mit uns tragen“

Daß die Roma keinen Platz auf der Erde als eigenes, ursprüngliches Territorium haben, ist Ergebnis einer grauenhaften Vertreibungsgeschichte. Bereits die Auswanderung aus ihrem (höchstwahrscheinlichen) Herkunftsland Indien, vermutlich um das Jahr 900, war nach heutiger Einsicht eher eine Zwangsverschleppung. Daß die Roma aus Indien weggezogen seien, um als Musiker und Kesselschmiede anderswo ihr Glück zu versuchen, sei etwa so treffend wie „wenn jemand von den Schwarzen sagen würde, sie seien aus Afrika ausgewandert, um in Amerika als Fußballspieler und Jazzmusikanten zu leben“, sagt der Sprachhistoriker Yaropn Matras.

Die historische Verbindung zu Indien, speziell zum Pandschab, hat sich bis heute gehalten. Indien, das eine rituelle „Schirmherrschaft“ über die Roma ausübt, „könnte durchaus eine größere Rolle spielen“, meinte Ian Hancock, Vertreter der Internationalen Roma-Union bei den Vereinten Nationen, während seines Besuches in Hamburg im März 1992. „Unter Indira Gandhi konnten alle Roma, die dies wünschten, die indische Staatsbürgerschft erhalten, was Angehörigen anderer Nationen verwehrt war. Diese Zeit ist vorbei, sie sollte auch nicht romantisch verklärt werden.“ Die Bedeutung der historisch angestammten Heimat, wie sie Israel für die Juden hat, diese Bedeutung Indiens war und ist für die Roma eher blaß.

Postnational, pränational?

Kein Territoirum der Herkunft und realistischen Hoffnung zu haben, ist für die Roma ein Handicap; sie sind nicht „postnational“ in dem Sinne, daß sie den Nationalstaat durchlebt und satt hätten, sondern gleichzeitig „pränational“ in dem Sinne, daß sie die Vereinheitlichung noch vor sich haben. Vielleicht trägt die Erfahrung, was ihnen machtvolle Nationalstaaten angetan haben, dazu bei, daß sie diesen Weg nicht gehen wollen und das Handicap auch als Chance sehen. „Wir haben alle möglichen Probleme, aber das Problem des Territoriums bleibt uns erspart“, sagt Hancock. Auch ein Vorschlag aus den dreißiger Jahren, in Äthiopien ein Roma-Land zu gründen, seinerzeit orientiert am Zionismus, blieb Episode.

In Europa, das die Roma vor dem 14.Jahrhundert erreichten, gab es getrennte Entwicklungen: In den Balkanländern waren sie als Arbeitskräfte verpflichtet worden, weil es daran wegen der Kreuzzüge fehlte, und wurden immer mehr in Leibeigenschaft und schließlich in Sklaverei gehalten. Man bot sie auf Sklavenmärkten regelrecht zum Kauf an, allen Brutalitäten ausgeliefert, die wir sonst nur aus der afro-amerikanischen Geschichte kennen. Im heutigen Rumänien wurde die Roma- Sklaverei erst um 1862 abgeschafft, die Roma wurden „unsere Neger“ genannt. In den anderen europäischen Ländern waren die Roma zwar formal frei, aber ständig verfolgt, als Heiden, türkische Spione, ewig büßende, schuldbeladene Nomaden — welche Gestalt der „Zigeuner“-Mythos auch annahm, sie dienten als Sündenböcke und Freiwild für die Ausgrenzungswut der Gesellschaft. Im Nazi-Völkermord wurde etwa eine halbe Million Roma ermordet. Im Teufelskreis des „Zigeuner“mythos und dessen Spiegelbild, der „Zigeuner“romantik („mit der muß Schluß sein“, ist Ian Hancocks zentrale Botschaft) überleben Ächtung und Kriminalisierung der Roma bis heute.

Mittlerweile haben die meisten Roma die Staatsbürgerschaft der Länder erhalten, in denen sie sich gerade aufhielten. Die seit etwa 600 Jahren in Deutschland lebenden Sinti, die im weiteren Sinn zum Volk der Roma gehören, besitzen — soweit sie die Nazis überlebten — zum größten Teil die deutsche Staatsbürgerschaft. Die großen Roma-Bevölkerungen etwa in Rumänien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und dem restjugoslawischen Makedonien — insgesamt sprechen etwa zehn Millionen Menschen in Europa Romanes — besitzen Pässe der betreffenden Länder.

Zwar sind die Roma in Westeuropa auch nach der Nazizeit noch verfolgt worden und bis heute nicht wirklich anerkannt und frei von Diskriminierung. Aber in den östlichen Ländern mit der Roma-Sklaverei- „Tradition“ ist der Paß auch schon alles: Weit weniger als im Westen sind die Roma dort Bürgerinnen und Bürger „ihres“ jeweiligen Staates geworden. In Rumänien wurden ihnen bis vor kurzem die Rechte vorenthalten, die den zahlenmäßig eher kleineren deutschen und ungarischen Minderheiten zustanden. In der Tschechoslowakei geht die Zwangssterilisation von Roma-Frauen möglicherweise selbst heute noch weiter. Jugoslawien hatte den Roma nicht einmal soviel Autonomie eingeräumt, wie sie die Kosovo-Albaner zeitweise genossen. Südosteuropäische Roma leben meistens am Rande der Großstädte in Slums, ohne Schulbildung und Arbeitsplätze, oft ohne festes Obdach. Aus dem Teufelkreis von Vorurteilen, gewaltsamen Übergriffen und katastrophaler Versorgung, für die sie auch noch als Sündenböcke herhalten, suchen viele den gleichen Ausweg wie in früheren Jahrhunderten: Sie flüchten.

Roma Power wie Black Power

Aber aus den osteuropäischen Ländern kommt auch eine neue nationale Bewußtheit, eine Einheitsbewegung der Roma. Hancock, der mit seinem Buch Das Pariah-Syndrom die erste kompakte Darstellung dieser Sklavengeschichte geliefert hat, vergleicht die Bewegung mit den Black Panthers in den USA seit den sechziger Jahren. Die meisten Roma-Politiker der letzten Jahrzehnte seien aus dieser Sklavenrebellen-Tradition gekommen — bis hin zu Rudko Kawczynski, dem Sprecher der Rom & Cinti Union in Deutschland.

Was macht eine Nation aus, fragt Hancock — und gibt die verblüffende Antwort: nichts als das Bewußtsein, eine Nation zu sein; die Verfügung über Land könne hinzukommen, aber das sei nicht immer und nicht notwendig so. Wichtigster Faktor für das Roma-Nationalbewußtsein sei ihre Aufteilung der Welt in Roma und Gadzé (sprich Gadsche), womit die anderen Völker insgesamt gemeint sind. „Weil es kein politisches Heimatland gibt und die Bevölkerung über die ganze Welt verstreut ist, kann die Romanipé (Roma-Kultur, d. Übs.) als ‘tragbares Heimatland' der Roma angesehen werde.“ (Hancock) Wichtig ist sicher auch die Sprache, Romanes, die zeitweise vor den „Gadzé“ geheimgehalten wurde und jetzt allmählich zur Schriftsprache wird.

Gerade weil die Roma auch in den westeuropäischen Ländern so lange verfolgt waren, sind ihnen Staatsbürgerrechte, die nicht nur auf dem Papier stehen, so wichtig. Die Folge sind Kontroversen unter den Organisationen der Roma und Sinti über das Schicksal der Roma-Flüchtlinge, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Im Sommer 1991, auf dem bisherigen Höhepunkt der Fluchtbewegung, wurde die Zahl der von Abschiebung bedrohten Roma-Flüchtlinge auf zehn- bis zwölftausend geschätzt. Die lautstarke öffentliche Diskussion um den Zuzug von Roma aus Südosteuropa gefährdet, so fürchten manche Sinti, ihren in Jahrzehnten erkämpften akzeptierten Status. Einen „Skandal“ hat Alfred Erdölli von der „Rom-Union“ in Berlin die Haltung derjenigen Sinti genannt, die nicht klipp und klar ein Bleiberecht für die Flüchlinge fordern. Hancock auf die Frage, ob da von Rassismus die Rede sein könne: „Rassistisch würde ich diese Haltung nicht nennen, denn es geht ja um die gleiche Rasse. Es ist eine Klassen- Haltung, eine Snob-Haltung. Es gibt sie nicht nur in Deutschland und nicht nur bei den Roma. Die seit langem in den USA lebenden Chinesen zum Beispiel sind voller Mißtrauen gegen die heutigen Flüchtlinge aus China.“

Aktionen wie die Besetzung des ehemaligen KZ Neuengamme bei Hamburg 1989, der „Bettelmarsch“ einiger hundert Roma von Bremen nach Bonn 1990 und das Zeltlager vor dem Düsseldorfer Landtag wurden hauptsächlich von der Hamburger „Rom & Cinti Union“ begleitet. Diese Organisation vertritt auch die Forderung nach Anerkennung als nicht-territoriale Nation. Der Vorsitzende des Heidelberger „Zentralrats Deutscher Sinti und Roma“, Romani Rose, dagegen äußerte sich auf dem Evangelischen Kirchentag 1991 so: „Unsinnig und diskriminierend sind die Behauptungen, wir seien ein ‘heimatloses, nicht-territoriales Volk'. Dieser Unsinn gilt weder für Deutschland noch für die anderen acht Millionen Roma, die zum überwiegenden Teil in Osteuropa wohnen und ihr jeweiliges Land auch als ihre Heimat empfinden.“

Zu der Frage, ob Roma in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden dürfen oder nicht, wird keine klare Stellung bezogen. Allerdings hat der Zentralrat mit dem Außenministerium vereinbart, daß eine Abschiebung in Bürgerkriegsregionen ausgeschlossen ist.

Roma wie Dänen, Sorben und Friesen?

Für die Strategie der mit halbwegs verläßlichen Staatsbürgerrechten Ausgestatteten gilt Roses Wort: „Wir 70.000 deutschen Sinti und Roma wollen mit unserer Identität als eine deutsche Volksgruppe akzeptiert werden. Eine solche eigene Volksgruppenidentität haben in Deutschland auch die deutschen Sorben im Osten (...), die deutschen Dänen in Südschleswig und die deutschen Friesen im Nordwesten der Republik.“

So betont der Zentralrat auch seine Bemühungen, die Roma-Lebensbedingungen dort, in den Herkunftsländern Rumänien und Restjugoslawien, zu verbessern und unterstützt zum Teil das Programm der nordrhein-westfälischen Landesregierung, Flüchlinge nach Skopje in Makedonien zurückzuführen. Die Hamburger RCU dagegen betont die Forderung nach Bleiberecht für die heimatlosen Roma, deren Staatsbürgerschaften mehr oder weniger zufällig seien, hier: „Durch die Entwicklungen im Europa der Nationalstaaten wurden (...) die heimatlosen Roma faktisch gezwungen, Staatsangehörigkeiten anzunehmen, zu ihrem eigenen Schutz.“ Doch habe dieser formelle Status nicht zur Gleichberechtigung geführt. Die Roma könnten zum Beispiel nicht nach Skopje „reintegriert“ werden, weil sie dort nie integriert gewesen seien.

„Das Problem der entwurzelten Roma“, so die Rom & Cinti Union in ihrem Positionspapier „Roma in Europa“ 1991, „kann auf lange Sicht und nicht nur vorübergehend nur durch Gewährung von Aufenthalts- und Bürgerrechten in den jeweiligen Gesellschaften, in denen sie leben, gelöst werden (...). Die Forderung nach einem Bleiberecht für heimatlose Roma-Flüchtlinge ist eine Forderung nach einem besonderen Schutz für eine besonders bedrohte Minderheit (...). Roma sind keine Armutsflüchtlinge.“

Mehrere Erklärungen des Europäischen Parlaments, des Europarats und der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa deuten immerhin auf eine Tendenz zur Anerkennung der Roma als trans-nationaler Minderheit ohne starre Rücksicht auf Staatsbürgerschaft hin. So die Genfer Expertenkonferenz der KSZE über nationale Minderheiten vom Juli 1991: „Die Teilnehmerstaaten (...) bekräftigen erneut, daß sie die besonderen Probleme der Roma (Zigeuner) anerkennen. Sie sind bereit, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die volle Chancengleichheit zwischen Angehörigen der Roma mit gewöhnlichem Aufenthalt in ihrem Staat (Hervorhebung d. Verf.) und der übrigen dort ansässigen Bevölkerung herzustellen.“

Bonn: „keine Roma-Minderheit“

Im März 1992 allerdings mußte für Deutschland ein blamabler Rückschritt konstatiert werden. Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen nahm eine Entschließung „zum Schutz und zur Sicherheit der Roma als Minderheit“ an — und Deutschland stimmte als einziges EG-Land unter „allgemeinem Gelächter im Konferenzsaal“ ('Frankfurter Rundschau‘) nicht dafür. Die Roma seien in Deutschland keine Minderheit, hieß es; auch wolle die Bundesregierung nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen — was mit „Sicherheit“ hier gar nicht gemeint war —, aber was soll's, die deutsche Diplomatie panikte, vielleicht könne man fürderhin die berechtigten Sozialhilfe- und Wiedergutmachungsansprüche nicht mehr verweigern. Und schließlich müsse die Regierung weiterhin Roma ausweisen können. „Das ist dieselbe Haltung wie in den fünfziger und sechziger Jahren zur Entschädigungsfrage“, empört sich UN-Vertreter Hancock: „Damals hieß es, wir haben die Roma ja nicht als Rasse getötet, sondern als Kriminelle. Heute heißt es, sie seien keine Minderheit.“

Trotz der Differenzen zwischen westlichen StaatsbürgerInnen und östlichen Heimatlosen, die aus der unterschiedlichen Interessenlage erklärbar sind, berühren sich die Forderungen der Roma-Organisationen in dem zentralen Punkt: Wir brauchen eine differenzierte Lösung der Nationalitätenprobleme — eine Lösung, die ohne Abgrenzug „sauberer“ Territorien auskommt. Werden die Roma als nichtterritoriales Volk mit Bleiberecht in Europa akzeptiert, werden parallel dazu die Roma und Sinti mit mehr-als-papiernen Staatsbürgertraditionen als nationale Minderheiten anerkannt, dann stecken darin vielleicht auch Modelle für andere Nationalitäten.

Dies ist im übrigen nicht nur Zukunftsmusik. Auch bisher waren die Roma nicht immer und überall nur Opfer und Verfolgte. Zum Beispiel geht in den Nachrichten aus Bosnien- Herzegowina, wo Serben, Kroaten und Muslime derzeit die territorialen Stückelungszwänge bis zum Exzeß treiben, unter, daß bisher die Roma dort noch am ehesten von ganz Jugoslawien in einem multi-ethnischen Gebiet „in relativer Ruhe“ (Hancock) hatten leben können.

Um noch einmal Hancock zu zitieren, der übrigens seine Roma-Vertretung in der UNO von Texas aus wahrnimmt, wo er als Universitätsprofessor — also in der Tradition der „Entertainer-Sklaven“, bemerkt er — Sprachwissenschaften lehrt: „Unser Heimatland Romanistan ist die Summe unserer Kultur und unserer Ideen. Die neuen Chauvinismen sind ja sehr stark ans Territorium gebunden, was für uns nie der Fall war. Die anderen Völker sollten mehr auf die Roma schauen.“

Michael Frost, Grüner Stadtverordneter in Bremerhaven, ist mit Simone Heimannsberg und Richard Herding in der Sinti-/Roma-Arbeitsgruppe beim „Informationsdienst: Netzwerk Alternative Publizistik“, Bremen. Von der selben Troika erschien am 27.3. auf der taz-Kultur „Die Tücken des Rassismus“ — über Studien zur „Tsiganologie“ und Folkloristik