Blue Note der Wissenschaften

Allein die Musiker im Publikum könnten ein Festival bestreiten: „651“ präsentiert das „100 Years Jazz Blues Festival“ in der Brooklyn Academy of Music  ■ Von Christian Broecking

Es ist Frühling in New York. Der Schnee von letzter Woche ist vergessen, die homeless haben sich wieder an den Ecken postiert, um dein Wechselgeld in ihren Plastikbecher zu wünschen, die Dealer drängeln auf dem Washington Square, und die Taxifahrer hassen Juden. Es herrscht Rezessionsstimmung in New York. Die Läden gehen out of business, und in den leeren Clubs knallen die Korken bestenfalls noch auf japanisches Geheiß. Es wird Frühling in New York. Die innere Zeit läuft so schnell, daß einem die Vorstellung eines ewigen Lebens hier Alpträume beschert.

Ob man Manhattan nun unterirdisch mit dem Express 4 oder 5, oder über die Brücke mit dem D-Train hinter sich läßt, Brooklyn ist aus dem Winterschlaf noch nicht erwacht. Wenn man Atlantic Avenue aussteigt, ist sofort zu spüren, daß hier weiter nichts zu versäumen ist, außer dem Festival von „651“ in den angenehm kargen Räumen der Brooklyn Academy of Music (BAM). 651 ist eine Non-Profit-Organisation, die seit ihrer Gründung 1988, unter der künstlerischen Leitung ihres afroamerikanischen Direktors Leonard Goines, im zweijährlichen Turnus ein außergewöhnliches Festivalprogramm organisiert. 651 ist benannt nach ihrer Lokalität, 651 Fulton Street, dem Sitz der BAM, der sie auch institutionell angegliedert ist. Ihre Aufgabe besteht in der Bewahrung und Vermittlung des multikulturellen amerikanischen Erbes auf lokaler Ebene. Der Jazz ist in den 651-Aktivitäten zentral. Von der ständigen Konzertserie für angehende Jazzmusiker On Fulton Street verspricht man sich neue Stimmen und Richtungen für die Nation. Zukünftig will man sich verstärkt den Beziehungen zwischen Jazz und europäischer Kunst („klassische Musik“) widmen, auch die Arbeit zeitgenössischer schwarzer Jazzkomponisten für Symphonieorchester in sein Programm aufnehmen.

Zur Erinnerung: Erst 1969 konnte der weiße zeitgenössische Komponist Gunther Schuller auf einer akademischen Konferenz aussprechen, daß „Duke“ Ellington ein bedeutender amerikanischer Komponist sei, und es brauchte über ein weiteres Jahrzehnt, daß der amerikanische Kongreß den Jazz zum „national treasure“ erklärte.

African American Music ist der Terminus für die Dinge, die kommen. Was für New York durchaus nicht selbstverständlich ist: Das Festival wird auf der Bühne sowie im Publikum von African Americans dominiert. Die einzigen weißen Teilnehmer der Podiumsdiskussionen sind der Jazzhistoriker Dan Morgenstern und der Jazzpfarrer John Garcia Gensel, der im Herbst Miles Davis beerdigt hat. Der Einfluß von Jazz und Blues auf die Kulturen der Welt und Blues als sozialer Kommentar sind die großen Themen, zu deren Diskussion namhafte Vertreter der African American Studies ihre unterschiedlichen Forschungsansätze und -ergebnisse darstellen werden. African American Studies meint die Institutionalisierung und Etablierung des Studiums afrikanisch-amerikanischer Kultur in den Kanon des amerikanischen Wissenschaftsbetriebes. Da ist im letzten Jahrzehnt viel geschehen. Viele Musiker, die im Laufe des Festivals auftreten und schon in den fünfziger Jahren Jazzgeschichte machten, vermitteln heute mit Doktor- oder Professortitel jungen Nachwuchsmusikern ihre Erfahrungen. Die Geschichte des Jazz und Blues ist zuallererst Oral History. Ein Umstand, dessen man sich hier in jedem Ton und Satz vergewissert.

Der Sound afrikanischer Trommeln in New York

„Als ich 1958 zum ersten Mal in die U.S. kam und ein Appartement in Harlem bezog“, erinnert sich der Musikwissenschaftler Prof. J.H. Kwabena Nketia, „da hörte ich etwas, das dem Sound afrikanischer Trommeln unglaublich ähnelte. Ich ging dem nach und traf in einem Park nahe der Amsterdam Avenue auf einige schwarze Amerikaner, die dort Basketball spielten, trommelten und tanzten. Die Bewegungen ihrer Körper faszinierten mich, das war alles sehr afrikanisch.“

Dr. Nketia, der derzeit Professuren in Pittsburgh, Los Angeles sowie in seinem Heimatland Ghana innehat, entwirft im grundlegenden Unterschied zur weißen musikethnologischen Forschung eine kultursoziologische Perspektive, in der Fragestellungen über soziale und kulturelle Zusammenhänge, das Gemeinschaftsleben und die Musikerausbildung breiten Raum einnehmen.

Jazz in Africa? — It's Afro

Die afrikanischen Wurzeln sind in der afrikanisch-amerikanischen, karibischen und lateinamerikanischen Musik präsent, und sie übt vermutlich wegen dieser Nähe einen großen Einfluß auf zeitgenössische afrikanische Musiker aus.

Ghanaische Gospelmusik ist wie der Blues von der amerikanischen grundverschieden. Der Sound von O.K. Jazz, Jazz Kings, Milo Jazz, Akpata Jazz und Afro Jazz, den Gruppen Tempos, Psychedelic Aliens oder Avengers hat wenig gemein mit African American Jazz. Afrikanische Musiker sind vor allem fasziniert von der Mode der African Americans, ihrem Auftreten und ihrer Kleidung. Alles, was aus dem schwarzen Amerika kommt oder daher inspiriert ist, also irgendwie einen afrikanischen Touch hat, aber sich von den in Afrika noch präsenten historischen Formen unterscheidet, ist „Afro“. Kann nun die Erfahrung der African Americans für afrikanische Musiker eine Brücke sein, ein Modell, den Anschluß an die äußere Welt und den Musikmarkt zu finden und zu einer neuen kulturellen Synthese zu gelangen?

„It's all fusion, kaum einer weiß doch, von welchem Stamm er kommt“, wettert Stanley Crouch, einer jener zornigen schwarzen Publizisten, die wissen, daß man den Leuten etwas bieten muß. „Das ganze Gerede über die afrikanischen Wurzeln der schwarzen Musik, den Beat und all das, ist okay. Aber soviel Mist, den irgendwelche (!) Segregationisten mal in die Gegend gekotzt haben, schwappt immer wieder hoch, daß wir's fast selber glauben. Schwarze Musik ist das Ergebnis harter Arbeit, ständiger Proben und Prüfungen — nichts anderes.“

Stanley Crouch, Jahrgang 1945, war zwischen 1979 und 1989 Redaktionsmitglied der New Yorker Wochenzeitung 'Village Voice‘. Hier entwickelte der heimliche Star des Podiums seinen selbstreflexiven, provokanten Stil. Die Bewegung des Black Nationalism war für ihn im schwarzen Rassismus erstarrt, und die schwarzen Intellektuellen waren bis auf wenige paralysiert. Ihrer Forderung an die Weißen, sich von Rassismus und Demagogie loszusagen, entsprachen sie selbst nicht. Von der Vision eines universellen Humanismus fand man sich weiter entfernt denn je. Die Civil Rights Movement war für die militante Führerschaft der schwarzen Amerikaner lediglich ein vermeintliches Vehikel zur Macht. Verdrehte Welt? Nein, nur eine seltene schwarze Stimme. Crouch wird nachhaltig von der europäischen humanistischen Literatur beeinflußt. „Western Standards“, wie er ausführt, „der Code dafür, ein Verräter der Revolution zu sein.“ Er wird zum hanging judge, einer, der seine ehemaligen Kampfgefährten an den „verdienten“ Pranger stellt. Er schrieb gegen den „todgeweihten“ Radikalismus sich vor Aids nicht schützender Homosexueller in Manhattans Village, die, ähnlich den schwarzen militanten Kadern Ende der Sechziger, alles, was ihren Lebensstil einschränkte, als Repression verteufelten: die „Hölle der selbstgefälligen Isolierung“. Vor allem die Erfahrungen und Erfolge der Frauenbewegung deutet Crouch als Zeichen grundlegener Veränderung: „Wir leben im Zeitalter der Neubestimmung.“ Adorno müßte ihn fürchten: Crouch betreibt die Intellektualisierung des Jazz.

Soulbrother Thomas Mann

Crouch zitiert aus einer kleinen Exilschrift von Thomas Mann (1938, Vom zukünftigen Sieg der Demokratie), daß die Demokratie vor jeder anderen Gesellschaftsform „von dem Gefühl und Bewußtsein der Würde des Menschen“ inspiriert sei. Darin sieht Crouch die eigentliche Message des Jazz angelegt: „Der Glaube an die Würde des Negers und die Bedeutung der Indidvidualität führte zu dem wahrschenlich radikalsten Anschlag auf die westlich-musikalische Konvention in diesem Jahrhundert: Blues wurde zur ästhetischen Hymne dieser Kultur, die in einer Art die Erfahrung des heutigen Lebens transportiert, wie es keine Musik europäischen oder anderen Ursprungs je geschafft hat.“ Das Wunder der Improvisationskunst Jazz sei, daß sie alle musikalischen Ausdrucksformen, mit denen die Afrikaner seit ihrer Ankunft in Amerika in Berührung kamen, in einem ästhetischen Konzept fusioniere.

Die Jazzcommunity feiert

Jam Session at Minton's with Donald Byrd & Friends ist der Titel der Eröffnungsgala, dem Komponisten und Pianisten Thelonious Monk gewidmet. Zum Teil krank und gebrechlich, sind sie alle gekommen, und wenn es nur für ein Solo ist: Sheila Jordan, Art Taylor, Barry Harris, Cecil Payne, Rufus Reid, Frank Foster und Eddie Bert, um nur einige zu nennen. A musician's music, dafür stand der Uptown-Club Minton's Playhouse als Symbol, bevor der Bebop sich in den Clubs der 52. Straße etablieren konnte. Und weniger das musikalische Erlebnis, als diese Symbolträchtigkeit machen das Konzert zu einem Ereignis der Jazzgemeinde: Allein die Musiker im Publikum könnten schon ein Jazzfestival bestreiten.

Der Pianist Randy Weston, gebürtiger Brooklyner, kehrte 1968 dem New Yorker Jazzbusiness den Rücken und erforschte von Marokko aus die kontinentalen roots seiner Musik. Er ist für sein musikalisches Monk-Tribut zurückgekehrt — meditativ und introvertiert.

Nach 40 Jahren klingt hier alles sehr vertraut, lediglich Ahnee Sharon Freeman (p) und Makanda Ken McIntyre (as) erinnern an das Dissonante bei Monk.

Black Music ist das Medium unserer Revolution

Der Poet und Publizist Prof. Amiri Baraka (LeRoi Jones) spricht von Black Music als Kraft sozialer Veränderung, den Willen zur Freiheit symbolisierend. „Wir brauchen eine Kulturrevolution in den U.S., und die Musik ist unser revolutionäres Kommunikationsmedium, lokal und global. Black Music ist das Vehikel schwarzer Selbsterziehung.“ Beifall im Plenum — das mußte wohl nochmal gesagt werden.

Doch drängt sich hier die Frage auf: Ist man schließlich, nach der Etablierung und Institutionalisierung afroamerikanischer Kunst als nationales, „hohes“ Kulturgut weiter denn je entfernt von den Kräften revolutionärer Veränderung, den proletarischen Jugendlichen in den schwarzen Ghettos? African American Studies nur eine weitere Sackgasse ins Dickicht des intellektuellen Abseits?

„Machen wir uns nichts vor“, fragt Delridge Hunter, Professor für Oral History in Texas, „warum können denn so wenige African Americans mit ihrer Musik was anfangen? Ich habe von weißen Publizisten erfahren, daß Black Music Protestmusik sei.

Es würde keinen Country and Western geben ohne T. Bone Walker... Es gibt heute keine amerikanische Musik, die nicht schwarze Musik als Grundlage hat. Ich habe Studenten aus der Karibik, die von der Beziehung zwischen Blues und Reggae keine Ahnung haben, aber intuitiv Blues-Lyrik verfassen können.

Marvin Gaye als Sänger für Werbespots...

„Ja, es ist bizarr“, fügt Amiri Baraka hinzu. „Sicher haben wir wissenschaftliche Institutionen für schwarze Kultur etc., aber wir stehen herum und schauen hilflos drein, wenn Michael Jackson 100 Millionen Platten verkauft, wenn die Werbeindustrie die ganzen Motown-Hits aufkauft und Marvin Gaye — als Sänger für Werbespots wiederbelebt — erfolgreicher denn je wird. Kann etwa nur noch die Werbung was mit unserer Musik anfangen? Spiel lieber Gitarre oder Klavier in deiner Garage oder auf dem Spielplatz oder irgendwo in deiner Nachbarschaft als in irgendeiner dieser Hallen der Plattenindustrie.“

Nicht alle sind Rassisten

„Als wir von Texas hierherfuhren, kamen wir durch 16 Städte“, ergänzt Deldridge Hunter. „In jeder Stadt war schwarze Musik lebendig. All black clubs. Keine Anzeige in den Zeitungen, die Leute wissen wo. Wenn man ins Village (New York) geht, findet man weiße Musiker. Das wird man in Dallas oder Texas nicht finden, daß Weiße in einem Blues- Club spielen. wenn wir von weißen Musikern sprechen, sollten wir klar haben, daß wir nicht von weißen Amerikanern reden. Es gibt Blues- Clubs in der ganzen Welt, und von überhallher kommen Musiker zu uns, um zu lernen, herauszufinden, worum es eigentlich geht.“

Ein kleiner Schritt zurück: „Was ist eine Blue Note?“ fragt ein Schwarzer im Plenum. „In bezug zur europäischen Notenschrift ist die Blue Note zwischen E und Es lokalisiert, zwischen H und B und manchmal auch woanders“, erklärt Hunter, „es ist ein Sound, der keinem europäischen Instrument zuzuordnen ist, es sei denn einer verstimmten Gitarre. Hör dir B.B. King an oder Howlin' Wolf, und du weißt, worum es geht.“