Gesucht: Eine Mehrheit für den Präsidenten

Mit hektischer Mauschelei hinter den Polit-Kulissen bereitet sich Italien auf die heutige Präsidentenwahl vor/ Da kurz nach den Parlamentswahlen die Kräfteverhältnisse noch unklar sind, können sich die Parteien nicht auf gemeinsame Kandidaten einigen  ■ Aus Rom Werner Raith

So kompliziert wie diesmal hat sich die Wahl des Staatspräsidenten in Italien noch nie angelassen. Zwar waren in der Vergangenheit schon des öfteren mehrere Wahlgänge nötig, bis ein Kandidat durchkam, und auf Anhieb hat die in den ersten Abstimmungen notwendige Zweidrittelmehrheit nur der bisherige Amtsinhaber Francesco Cossiga weit übertroffen. Doch derzeit kommt zum Mangel an mehrheitsfähigen Kandidaten noch die Tatsache, daß nach dem Wahlausgang vom 5. und 6.April auch die allgemeine politische Situation völlig offen ist, sich keinerlei tragfähige Koalition am Horizont zeigt.

Italiens Verfassungsväter hatten eine solche Situation vorausgeahnt und in der Konstitution des Jahres 1948 ausdrücklich verboten, daß Regierungsbildung und Wahl des Staatsoberhaupts in allzu große zeitliche Nähe rücken. Sechs Monate, ein „weißes Semester“ müsse zwischen beiden Ereignissen liegen. Doch seit fünf Legislaturperioden haben die Politiker ihre Volksversammlung regelmäßig vorzeitig beendet, drei Präsidenten beendeten ihre Amtszeit nicht, und so fand diesmal die Parlamentsswahl im April nur kurz vor den jetzt anstehenden Präsidentenwahlen statt.

Senat und Abgeordnetenhaus änderten daher noch schnell die Verfassung und hoben das „weiße Semester“ auf. Mit den nun sichtbar werdenden, von den Verfassungsgebern vorhergesagten fatalen Folgen. Die Wahl des Staatsoberhaupts gerät voll in das Kräftespiel der Regierungsbildung hinein. Da aber diese höchst kompliziert ist, weil die bisherige Mehrheit faktisch abgewählt wurde und eine Alternative nicht in Sicht ist, gibt es bisher keinerlei haltbare Absprache auch bei der Wahl des Präsidenten.

So präsentieren am heutigen Mittwoch nahezu alle Parteien — bis hin zu Zweiprozent-Formationen — eigene Kandidaten. Doch auch da gibt es etwas Neues: Die Christdemokraten, bisher in solcher Frage nie gespalten, haben Schwierigkeiten, sich zwischen ihrem Parteivorsitzenden Arnaldo Forlani und dem bisherigen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti zu entscheiden. Beide verfügen innerhalb ihrer Fraktionen zwar nicht über eine Mehrheit, doch über immerhin soviel Anhänger, daß sie in der aus allen Mitgliedern von Abgeodnetenkammer und Senat bestehenden Wahlversammlung jeden DC-Kandidaten kippen können.

Die Sozialisten setzen auf ihren ehemaligen Justizminister Giuliano Vassalli, einem ehemaligen Partisanen und anerkannt staatsmännischen Juristen — der allerdings noch nicht entschlossen ist, überhaupt anzutreten. Die oppositionellen Republikaner präsentieren den mit großer Mehrheit soeben zum Senatspräsidenten gewählten ehemaligen Journalisten Giovanni Spadolini.

Neofaschisten unterstützen Cossiga

Die Neofaschisten wollen ebenso wie die Liberalen den bisherigen Amtsinhaber Francesco Cossiga noch einmal im Quirinalspalast sehen, er gilt ihnen als Bannerträger für den Übergang zu einer autoritäreren Republik nach dem Muster De Gaulles in Frankreich. Davon wollen die norditalienischen „Ligen“ natürlich gar nichts wissen: ihnen liegt mehr an der Auflösung des starken Zentralstaates denn an seiner Zementierung, und so haben sie ihren Vordenker Professor Miglio nominiert. Die „Rete“ des antimafiosen Bürgermeisters Leoluca Orlando aus Palermo macht sich für Tina Anselmi stark, die ehemalige Vorsitzende der Kommission zur Erhellung des Skandals um die kriminelle Geheimloge „Propaganda 2“ — sie wurde auf Betreiben der Loge nicht einmal mehr ins Parlament gewählt, genießt aber im Volk hohes Ansehen.

Auch die „Partito democratico della sinistra“, die größere der beiden aus der ehemaligen KP hervorgegangenen Formationen, wartet erstmals mit einer Frau auf: Nilde Iotti, bisher Kammerpräsidentin, doch bei den diesmaligen Wahlen nicht mehr im Amt bestätigt.

Umfragen haben ergeben, daß bei einer Direktwahl durchs Volk Nilde Iotti die größten Chancen hätte, doch das Volk hat da eben nichts zu sagen. So wird erst die übliche hektische Mauschelei hinter den Kulissen nach dem anfänglichen Kräftemessen in der ersten Abstimmung Kompromißlösungen zutage fördern.

Suche nach einem „unverbrauchten Gesicht“

Ein nicht unerheblicher Teil der Parlamentarier, eine quer durch die Parteien vom christdemokratischen Mario Segni konstituierte Aktion „Referendum“, fordert, spätestens nach dem ersten Schlagabtausch „Personen zu nominieren, die nicht Bestandteil des bisherigen Machtkartells sind“; eine Forderung, die auch die indiustrienahe Republikanische Partei mitträgt. Innerhalb der christdemokratischen Partei treten starke Kräfte um den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Antonio Gava und um den am linken Flügel angesiedelten Parteipräsidenten Ciriaco De Mita dafür ein, „nur solche Kandidaten zu nominieren, die angesichts der nicht mehr verschiebbaren Verfassungsreformen eine überaus breite parlamentarische Mehrheit bekommen“.

Dafür haben die Parteien sich natürlich auch schon jeweils „ihre“ Joker in die Tasche gesteckt. Die Christdemokraten würden dann den eben gewählten Kammerpräsidenten Oscar Luigi Scalfaro nominieren, einen zwar sehr konservativen, doch wegen seiner demokratischen Geradlinigkeit allseits geschätzten Juristen.

Der „Partito democtratico della sinistra“ hat sich dagegen eine Kandidatur ausgedacht, an der alle anderen Parteien nur sehr schlecht vorbeikämen — den Politologen und Philosophen Norberto Bobbio, seit längerem zum „Senator auf Lebenszeit“ ernannt und unbestritten eines der berühmtesten und trotz seiner 83 Jahre unverbrauchtesten Aushängeschilder der Nation.

Bobbio könnte, aufgrund seiner unumstrittenen Autorität, anders als alle anderen Kandidaten ohne Achtungsverlust zwei mögliche Bedingungen akzeptieren (oder sogar selbst stellen): sich weniger als im Ausland herumreisender Reklameträger und Repräsentant des Landes zu empfinden, als vielmehr einen untraumatischen Übergang von der derzeitigen Verfassung zu einer neuen Konstitution zu garantieren — und so bereits nach zwei oder drei Jahren Platz für einen jüngeren, der neuen Verfassung verpflichteten Nachfolger zu machen.

Auf diesem Zug suchen derzeit allerdings auch schon andere aufzuspringen. Senatspräsident Spadolini, der derzeit das Amt des Staatschefs verwest, hat durchblicken lassen, daß auch er eine solche „Garantenfunktion“ akzeptieren würde; die Sozialisten würden ihn für diesen Fall wählen. Vor allem sitzt Giulio Andreotti, 72, wieder im Startloch: Um seinen Lebenswunsch — den Abschluß seiner Politkarriere als Staatspräsident — zu erfüllen, ist er bereit, auch eine kürzere Amtszeit in Kauf zu nehmen — als Garant einer „großen Koalition“ aus Christdemokraten und Ex-Kommunisten unter Einschluß einiger kleinerer Parteien. Schließlich, so das ewige Stehaufmännchen, habe er ja schon einmal eine „Regierung der nationalen Solidarität“ aus DC und KP geführt.