: Eine Privatisierung macht noch kein Verkehrskonzept
■ Kommunen sollen Nahverkehr übernehmen/ Eine Regionalisierung der Bahn ohne Subventionen vom Bund führt aber zur Ausdünnung der Strecken
Die Bahn muß umstrukturiert werden, darüber sind sich alle einig. Denn passiert nichts, hat sich bis zum Jahr 2.000 ein Finanzbedarf von 417 Milliarden Mark angehäuft — fast soviel wie der gesamte Bundeshaushalt in diesem Jahr. Insbesondere die Reisenden in den Nahverkehrszügen fühlen sich schlecht behandelt: Nicht nur der Charme einer HO-Gaststätte, sondern auch lange Schlangen an den Schaltern und ein in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausgedünnter Fahrplan trieben sie scharenweise hinters eigene Lenkrad. Nur noch 6,4 Prozent des Individualverkehrs und etwa ein Viertel der Gütertransporte rollen auf der Schiene.
Nach dem jahrzehntelangen Schrumpfkurs kündigte Bahnchef Heinz Dürr kürzlich eine Trendwende an: „Keine Streckenstillegungen mehr“. Und auch Verkehrsminister Günther Krause wird nicht müde, die Bedeutung des Schienenverkehrs zu betonen. Privatisierung, Regionalisierung und Entschuldung sind die Zauberworte, mit denen die beiden die goldene Zukunft der Bahn einleiten wollen. Jedoch wird bisher weniger ein verkehrspolitisches Konzept deutlich, als der Versuch, sich aus der finanziellen Verantwortung zu stehlen.
Die Dezentralisierung des öffentlichen Nahverkehrs ist eine Forderung, die die grüne Bundestagsfraktion bereits Ende der 80er in einem Gesetzentwurf gefordert hat. Denn während die Bundesbahn sich nie am lokalen Bedarf orientierte, haben die Stadtverwaltungen mehr Interesse und Kompetenz, den Fahrplan auf die regionalen Bedürfnisse abzustimmen und so attraktiver zu machen. Viele Kommunen, insbesondere in den Ballungsgebieten, wollen diese Aufgaben auch gerne übernehmen, um den Dauerstau auf ihren Straßen abzubauen. Weil aber der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) allerorten hohe Defizite einfährt, müßte der Bund hier kräftig zuschießen. Sowohl das Bonner Finanz- als auch das Verkehrsministerium haben bei den laufenden Finanzierungsverhandlungen mit den Ländern und Kommunen dabei ein starkes Argument im Rücken: Am 1.Juli tritt eine EG-Verordnung in Kraft, die die regionalen Gebietskörperschaften verpflichten, den Nahverkehr zu planen, zu organisieren und zu finanzieren.
Wenn aber die Länder und Gemeinden nicht gesetzlich verpflichtet und finanziell in die Lage versetzt werden, die Schienen zu unterhalten und den Bahnbetrieb zu bezahlen, wird der öffentliche Nahverkehr in armen, ländlichen Regionen völlig zusammenbrechen. Bahnchef Dürr aber könnte seine Hände in Unschuld waschen: Die Stillegung von Streckenteilen wäre nicht mehr der Bahnbehörde anzulasten, sondern den Politikern vor Ort.
Bei der von der Regierungskommission Bahn angestoßenen Privatisierungsdebatte herrscht keine Einigkeit, inwieweit tatsächlich Teile verkauft werden sollen und können. Klar ist für Dürr und Krause, daß die Bundesbahn als Quasi-Behörde abgeschafft werden soll — eine Absicht, die nur durch eine Grundgesetzänderung mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag möglich ist. Durch ihre Monopolstellung einerseits und die Subventionen für leere Züge gibt es in der gegenwärtigen Struktur keinen Anreiz, die Kundschaft gut zu bedienen. Hinzu kommt, daß das Einkommen der Bahnbediensteten nicht leistungsabhängig ist, sondern vom Dienstgrad und damit von der Zahl der Untergebenen abhängt. Verkehrsminister Krause hat einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der neben der Entschuldung der Bahn eine marktwirtschaftliche Struktur vorsieht. Schienennetz und Betrieb des „rollenden Materials“ gehen demnach in eine Aktiengesellschaft ein, die zunächst unter dem Dach einer bundeseigenen Holding vereint sein sollen. Die Schienengesellschaft soll die Konkurrenz verschiedener Bahngesellschaften nutzen, um den höchstmöglichen Preis für attraktive Zeiten und Strecken zu erzielen. Dabei aber sind die Chancen der Nachfrager ungleich verteilt: denn während ein Hochgeschwindigkeitszug in der Regel lukrativ ist und sein Betreiber somit ein höheres Angebot abgeben kann, geraten die Organisatoren des Nahverkehrs in die Bredouille: bieten sie mehr als der Schnellzug-Betreiber, fahren sie noch tiefer in die roten Zahlen; verzichten sie, steigen viele Kunden ins Auto um.
In Gegenden, in denen hingegen nur wenige Züge verkehren, hat wiederum die Schienengesellschaft wenig Interesse, die Fahrwege in Ordnung zu halten. Ohne massive Subventionen aus den Gemeinde-Steuersäckeln wird kein kühl rechnender Unternehmer bereit sein, sich zu engagieren. Dirk Fischer, Vorsitzender des CDU-Bundesfachausschusses Verkehr, schließt denn auch die Stillegung unrentabler Nebenstrecken nicht aus.
Die Klassifizierung des Reichsbahnnetzes deutet schon in diese Richtung: 6.600 Kilometer wurden als Kernnetz definiert und sollen ausgebaut und gepflegt werden. Die restlichen 55 Prozent werden zwar nicht abgerissen, aber auch nicht instandgesetzt. „Wenn ich einerseits ein Bimmelbahnniveau habe, andererseits aber moderne Straßen anlege, wo auch ein Trabbi 80 Stundenkilometer schnell fahren kann, dann wandern die Leute zum Auto ab“, benennt Karl-Heinz Wagner, Chef der Gewerkschaft der Eisenbahner in Berlin, das zentrale verkehrspolitische Problem.
Nicht nur ein jahrelanges Mißmanagement hat die Bahn immer tiefer in die Verschuldung getrieben. Ihr Nachteil gegenüber der Straße liegt vor allem auch darin begründet, daß sie nach dem Krieg das ganze Streckennetz selbst aufbauen mußte, während die Asphaltpisten vom Staat kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Eine Verkehrspolitik, die sich nicht auf ein verbales Bekenntnis zum Schienenverkehr beschränkt, muß endlich dem Autoverkehr die Kosten aufbürden, die er verursacht: und das sind nicht allein die Milliarden für den Straßenbau, sondern vor allem auch die Belastungen der Umwelt. Erreicht werden kann das entweder durch einen Benzinpreis von fünf Mark pro Liter oder durch teure Lizenzen für das Recht, Abgase in die Luft zu blasen. So lange aber die Funktion der Bahn für die zukünftige Verkehrspolitik nicht festgeschrieben wird und statt dessen nur eine neue Finanzstruktur gesucht wird, ist abzusehen, daß die Bahn im Nahverkehr noch weiter aufs Abstellgleis fährt. Annette Jensen
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