: Kunstbahnhof mit Zwangsumtausch
■ Ein Projekt mit geradezu europäischen Ambitionen: Der Neustädter Bahnhof ist in Künstlerhand gefallen
Ein unglaublicher Ort! Ein vierzig Meter langer Gang, die Wände übersät mit Grafitti; es riecht schwer und süß nach Pisse. Treppauf kommt man auf einen Bahnsteig, da blüht Löwenzahn. Ein Fahrkartenautomat. Zehn Züge halten hier am Tag. Der alte Neustädter Bahnhof. Schwärzlich roter Klinker. Fahnenstangen auf dem Dach. In den verschachtelten Räumlichkeiten sitzen Weinhändler. Die Schalterhalle war zuletzt Lager für Tresore. Zehn Meter lichte Höhe, 250 Quadratmeter plus Empore, lichtüberflutet, ein Traumraum. Er ist in Künstlerhand gefallen. Heißt jetzt „Projekt Neustädter Bahnhof“. Ein Ausstellungsraum mit europäischen Ambitionen.
Mit dem Projekt Neustädter Bahnhof versucht eine Gruppe von vier Künstlern, einen „Beitrag zur Entwicklung von Austauschstrukturen für Künstler aller Regionen Europas“ zu leisten. Der Bahnhof soll nicht weniger als ein neuer Multiplikator für ein „Europa der Künstler“ werden: Was dermaßen brüsselesk tönt, ist doch mehr als Schall und Rauch. Die vier Künstler, das sind in der Tat Europäer: Klaus Berends lebt auf Fuerteventura; Francis Segond, Bremer Projekt- Motor, ist Franzose mit afrikanisch-brasilianischer Vergangenheit, studierte in Straßburg und ist seit '81 in Bremen; Frank Herrmann kommt aus der Ex-DDR; Volker Peick, Fotograf, lebt in Drakenburg bei Nienburg.
Jetzt haben sie die Schalter
Außen Bahnhof, innen oho. Aber täglich halten noch ordnungsgemäß zehn Züge im Neustädter Bahnhof
halle des Neustädter Bahnhofs von der Bundesbahn für 800 Mark im Monat langzeit-gemietet und mit erheblichem Aufwand hergerichtet. Die erste Ausstellung ist schon realisiert. Aus Bordmitteln, sozusagen: Le citta invisibili zeigt Arbeiten der Neustädter Vier. Außerdem — das ist der europäische Gedanke — Bilder des Franzosen Jean-Louis Charvot, der zum COBRA-Umfeld gehörte.
Alle ausländischen KünstlerIn
hierhin bitte
das Foto von dem
grauen alten
Bahnhof
nen, die im Neustädter Bahnhof ausstellen, verpflichten sich, zuhause eine Ausstellung für eine deutschen Kollegen zu arrangieren. Eine Art Zwangsaustausch. Denn, so schreibt das Projekt: „Zu den letzten Bastionen des Provinzialismus gehört die bildende Kunst ... Die überwiegende Mehrheit der Künstler verfügt kaum über einen direkten Zugang zu den Künstlern und zu dem Publikum anderer europäischer Regionen“.
Le citta invisibili (Die unsichtbaren Städte) ist ein Roman von Italo Calvino um 55 scheinbar verschiedene Städte, schwebende, unterirdische, ideelle usf., die in Wahrheit, zusammengenommen, immer wieder nur die eine Stadt sind: Venedig. Alle fünf an der laufenden Ausstellung beteiligten Künstler hatten das Buch gelesen und dazu gearbeitet. Entstanden ist ein geheimnisvolles Arrangement, ein — zufällig? — erstaunlich harmonisches Zusammenwirken aller Bilder, einer Dia- Schau und einer Geräuschkulisse vom Endlosband: unentwirrbare Gesprächsfetzen in verschiedenen Sprachen, wie auf dem Flughafen. Die Schalterhalle ist komplett abgedunkelt, nur kleine Spots beleuchten die Bilder. Meist abstrakte Annäherungen an die halluzinierten Calvino- Städte.
Unübersehbar an Beuys erinnern die kleinen Boxen von Klaus Berends, die jeweils eine Stadt repräsentieren: Stoffbezogen, eingeschnitten, mit Marmor- oder Acrylstaub bedeckt, auf Stelzenbeinchen. Volker Peicks Diaprojektionen sind zum Teil entstanden, indem der Fotograf seine Dias vergrub und verschimmeln ließ. Die Neustädter Schalterhalle adaptiert diese Arbeiten ohne Problem; sie hat ein weites Herz.
Bis jetzt haben die Künstler jeden Pfennig selbst aufgebracht. Doch nun müssen Sponsoren her, Spenden, Subventionen. Geld erwarten die Vier besonders von Brüssel: „Europäischer Künstleraustausch“ heißt das Stichwort. Sie haben erstmal gezeigt, was sie können. Und könnten noch viel mehr: Wenn die Bahn, wie geplant, eine Fußgängerbrücke zu den Bahnsteigen baut, könnte man auch den alten 40-Meter-Gang pachten. Eine phantastische Galerie! Bus
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