Ein Spaziergang mit Sir Ralf

Der Sozialwissenschaftler Ralf Dahrendorf interpretiert die Gegenwart unter der Dialektik von Angebot und Anrechten  ■ Von Christian Semler

Dieser Tage sind Theorien rar geworden, die uns die Gesellschaft in den Kategorien des sozialen Konflikts interpretieren. Das große Schlachttableau, auf dem in früherer Zeit Bourgeoisie und Proletariat miteinander rangen, hat einem bescheideneren Szenario Platz gemacht. Jetzt gilt es nur noch, die Residuen der Lebenswelt gegen den übermächtigen Ansturm der Steuerungsmedien Macht und Geld zu verteidigen. Die Systemtheorie erzählt uns in immer neuen Varianten die Geschichte der Neuzeit als erbaulichen Roman, in dessen Verlauf sich zum Nutzen aller die gesellschaftlichen Subsysteme herausdifferenzieren. Ralf Dahrendorf hingegen besteht in seinem neuen Werk Der moderne soziale Konflikt nicht nur darauf, daß der moderne Sozial- und Verfassungsstaat Resultat mehr als 200jähriger Kämpfe ist, er charakterisiert sie sogar als Klassenkämpfe, wenngleich in anderem Sinn als Marx.

Mit der Zurückweisung von Marx' Revolutionstheorie hebt der Essay Dahrendorfs an: Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus hätten fälschlicherweise die kapitalistische Entwicklung mit der Aktion des Proletariats dergestalt verknüpft, daß die proletarische Revolution notwendig aus den Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehe. In der Tat fehlt es dem Marxismus an irgendeiner brauchbaren Handlungstheorie, worauf allerdings andere Autoren, darunter auch schmerzlich berührte Marxisten, schon ein Weilchen vor Dahrendorf gestoßen sind.

Für Dahrendorf ist das entscheidende, die Moderne bestimmende Gegensatzpaar das zwischen Ansprüchen (entitlements) und Angebot. Die industrielle Revolution des 18.Jahrhunderts führt zu einer noch nie dagewesenen Vermehrung materieller Güter, sie ist die Angebotsrevolution. Auf sie antwortet die Französische Revolution mit der erstmaligen und massenhaften Verankerung von Ansprüchen. Was danach kommt, ist eine Kette weiterer Anspruchsrevolutionen bis zum Sozialstaat unserer Tage. Dahrendorf ist fasziniert von den Arbeiten des Ökonomen Amartya Sen, der nachgewiesen hatte, daß Hungersnöte sich nicht aus einem akuten Mangel an Lebensmitteln erklären, sondern aus gesellschaftlichen Zugangsbarrieren. Er erweiterte Sens ökonomisch eingegrenzte Anspruchstheorie um die politische Dimension. Dieses Verfahren erlaubt ihm, auf überraschende und neue Weise das Verhältnis von Politik und Ökonomie zu thematisieren. Wie steht es eigentlich um die gegenseitige Bedingtheit von Marktwirtschaft und demokratischen Rechten? Läßt sich ein Defizit an Anrechten durch ein hohes Angebot dauerhaft überspielen (Beispiel USA), oder ist es umgekehrt möglich, Mangel an Gütern durch ein hohes Anrechtsniveau zu kompensieren (letztes Beispiel Nicaragua)? Und wie, um Gottes Willen, soll in Gesellschaften wie den postsozialistischen verfahren werden, wo in einem Zug der Verfassungsstaat konstituiert, die Marktwirtschaft samt den mit ihr verbundenen sozialen Härten eingeführt und außerdem die zivile Gesellschaft am Leben erhalten werden muß?

Um unser Bewußtsein für die verschlungene Dialektik von Angebot und Anrechten zu schärfen, lädt uns Dahrendorf zu einem Durchgang durch die letzten fünf Jahrzehnte der „westlichen“ Welt ein. Es ist allerdings mehr ein Spaziergang als ein theoretischer Parforce-Ritt, vorbei an verwitterten Theoriegebäuden und verrufenen Vierteln, mit einer Ruhepause in Dahrendorfs kleinem privaten Pantheon, wo Kant einer Gelehrtenschar präsidiert, zu der Weber, Aron und Keynes gehören — alles Theoretiker, die gleich Dahrendorf nur eine kurze und unglücklich verlaufene Affäre mit der praktischen Politik hatten. Schließlich biegen wir in die belebte Hauptstraße ein, wo die Mehrheitsklasse promeniert. Sie hat es geschafft, ist die dominierende Klasse in den westeuropäischen Gesellschaften. Zwar trennen die sie konstituierenden Gruppen bedeutende soziale und Statusdifferenzen, aber innerhalb ihrer Reihen gibt es keine prinzipiellen politischen oder ökonomischen Barrieren mehr, die die Lebenschancen dieser oder jener Gruppe prinzipiell begrenzten. Die Mehrheitsklasse ist zwar launisch in ihren Parteipräferenzen, sie eint aber eine diffuse Hinwendung zu den Errungenschaften des Sozialstaats, sie ist „sozialdemokratisiert“. So what?

Dahrendorf ist alles andere als ein Katastrophentheoretiker. Schwarze Szenarien sieht er als Spezialität der 70er Jahre an, als eine verflossene Mode. Aber auch für ihn besteht am Ende des „Angebots-Jahrzehnts“ der 80er Jahre Grund zur Beunruhigung. Weniger die korporativistischen Tendenzen, die Monopolisierung gesellschaftlicher Interessen durch bürokratische, starre Großorganisationen machen ihm Sorge. Er schildert, ausgehend von der Entwicklung in den Vereinigten Staaten, das Entstehen einer neuen Unterklasse, die, da sie keinen „Einsatz“ in der bürgerlichen Gesellschaft hat, sich auch den Teufel um deren soziale und kulturelle Normen schert. Sie ist passiv, zersplittert trotz ihrer Massierung in den Ghettos großer Städte, unfähig, dem Vorbild der jetzigen Mehrheitsklasse zu folgen und sich im Kampf um eine neue Anrechtsrevolution zusammenzuschließen. Ihre einzige kollektive Äußerungsform ist das Rioting, die Massenkriminalität. An dieser Stelle malt Dahrendorf sein großes Schreckensbild — die Anomie. Da Ansprüche ihm zufolge stets absolut gelten müssen, können Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft sich nur innerhalb von kulturell-politischen Bindungen, den Ligaturen, entwickeln. Sie gehen in den ständig erneuerten und modifizierten Gesellschaftsvertrag ein, den die Teilnehmer der „Bürgergesellschaft“ miteinander abschließen. Aber gerade die Maschen dieses Vertrages beginnen sich aufzulösen. Rechtsfreie Räume weiten sich aus. Die Mehrheitsklasse reagiert mit pathologischen Formen der Ausgrenzung. Dieses düstere Szenario zeichnet sich nach Dahrendorf, allerdings unter gänzlich anderen Voraussetzungen, auch für Europa ab. Es wird verschärft durch die Flucht in abgeschlossene Identitätsvorstellungen, vor allem die der ethnischen Homogenität. Damit ist die Errungenschaft des demokratischen Verfassungsstaats, auf den Bürgerrechten zu beruhen, also seine ethnische und religiöse Heterogenität, gefährdet.

Was Dahrendorf an Heilmitteln anzubieten hat, ist nicht gerade überwältigend. Er fordert einen „schlanken“ Staat, für eine neue Anrechtswelle zugunsten der Unterklasse fällt ihm nur das garantierte Mindesteinkommen ein. Am schwächsten aber ist der Liberale Dahrendorf dort, wo eigentlich seine größte Stärke liegen müßte: in der Analyse und Aufgabenbestimmung der „Bürgergesellschaft“. Sie soll bunt, vielfältig und offen für Diskurse sein. Die Bürger, zumal die Jungen, für deren Belehrung Dahrendorf die Skizze einer Rede vorlegt, sollen etwas tun, was ihnen Spaß macht und wichtig ist. Über soziale Bewegungen und deren Perspektive redet Sir Ralf nur ungern und stets mit pejorativem Unterton. Adel verpflichtet. So klafft zwischen der emphatischen Beschwörung der Kantischen Weltgesellschaft und der schlichten Frage, wie die Leute sich heute wehren sollen, die berühmte strategische Lücke.

Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt. Deutsche Verlags Anstalt (DVA), 326Seiten, 44DM.