: »All by herself«
■ Annie Sprinkle gastiert mit ihrem Programm »Vom Junk-Sex zum Gourmet-Sex« in der UFA
Rote Samtvorhänge vor und hinter einem von Pfauenfedern beschatteten, Bett, mit Boas verhängte Spiegel, Dessous an den Wänden und das obligatorische Rotlicht ergeben einen Arbeitsplatz, der wohl weltweit gleich aussieht. Swingende Barmusik verkürzt die Zeit beim Milieustudium — schon schwebt sie herein, die »number one unter den Sexgöttinnen«. Der Morgenmantel reicht ihr bis auf die Füße, mit den aufgesteckten Haaren hat sie vorerst den Charme einer Hausfrau, die dem Milchmann die Türe öffnet. »I'm so happy to be back in Berlin«, haucht sie, ganz die Amerikanerin, ins anfangs leider laut quietschende Mikrophon.
Um absolut simple Dinge ginge es heute abend, läßt sie uns wissen, während mit dem Morgenmantel alle Hausfraulichkeit von ihr abfällt und der Blick auf ein diffiziles Lackledergeschnür frei wird. Eine Dia-Show, von Annie Sprinkle selbst live kommentiert, führt durch ihr eigenes simples Leben. In wundersamer Verwandlung wurde aus Ellen Steinberg, die bis dato als unscheinbares Mauerblümchen ein trauriges Leben fristete, über Nacht der heißbegehrte Sexstar Annie: Bilder eines puritanisch-amerikanischen Mädchens, wechseln mit Posenfotos für verschiedene Sexmagazine. Die neugeborene Annie ist keine durchschnittliche Prostituierte. Denn Annie ist kreativ. Ob sie Schamhaare, aufgetragene Höschen, Fläschchen mit Urin (»golden shower«) oder neuerdings ihre »titprints« verkauft, alles, was in irgendeiner Form mit ihrem Körper zu tun hat, versteht Annie in Show umzuwandeln.
Ihr Vortragsstil ist aus Komischste wissenschaftlich angehaucht, balanciert zwischen der puritanischen Distanziertheit eines Sexualtherapeuten und der inszenierten Geilheit einer Pornodarstellerin. Annie läßt kein Tabu unangetastet, spreizt den auf die Bühne komplimentierten Fotografen ihre Scham entgegen — »give me these big hard lenses« — und wirkt trotzdem nie wirklich erotisierend. Das ist Absicht. Die Sexworkerin will nämlich eigentlich aufklären. Allein der Geschäftsinstinkt läßt sie auf 20 Zentimeter hohen Absätzen über die Bühne staksen und nebenbei aus der Trickkiste eines Pornostars plaudern. Ob sie ihre beachtlichen Brüste ein Ballett aufführen läßt oder die von ihr bislang goutierten Schwänze in einer graphischen Darstellung zur Höhe des Empire State Buildings auftürmt, Annie weiß, was ankommt. Das bewunderswert freundschaftliche Verhältnis, in dem sie mit ihrem Körper lebt — »I love everything, that comes out of my pussy« —, ist glaubwürdig. Als Höhepunkt des ersten Showteils gewährt Annie Einblicke auf ihren »Gebärmutterhals«, neben »Schwanzes« eines der wenigen deutschen Wörter, die sie mit amerikanischer Selbstgefälligkeit leicht klangverzerrt in ihr Vokabular integriert hat. Ein silbernes Spekulum spreizt die Vaginawände, während die Lady sich nonchalant auf einem Louis-XVI-Stühlchen lümmelt und uns mit einer bunten Tuschezeichnung die Anatomie ihres Geschlechtsorgans erklärt. Der aufmerksame Manager steht daneben und verteilt Taschenlampen an das Schlange stehende Publikum.
Neben Aufklärung hat die Dame aus den Staaten auch eine ordentliche Portion Weltanschauung anzubieten. »We are somehow all connected and if I am happy, the universe is happy too«, lautet ihre erstaunlich einfache Sicht der Dinge. So machte die Sexworkerin eine zweite Wandlung durch, aus Annie wurde Anya.
Anya liebt vor allem sich selbst, Sex ist weiter wichtig, hat nun eher eine tantrische Dimension. Kerzen werden zu Ehren an Aids verstorbener Freunde entzündet, ein tantrisches Feuer würdigt die Meister in Himmel und Erde, und mit heftigem Schütteln und tiefen Atemzügen, einem Vibrator und einem Dildo, katapultiert sich die Meisterin der Lust in Gefilde endloser Glückseligkeit. Das Publikum darf mit Rasseln aus zusammengeklebten Plastikbechern an der orgiastischen Ekstase teilhaben. Das Abebben der sphärischen Klänge aus dem Off kündet von überschrittener Klimax. Eine Stimme bittet uns, Applaus zu unterlassen — denn »Annie is all by herself now«. Jantje Hannover
Annie Sprinkle noch bis zum 31. Mai Mi.-So. 21 Uhr in der UFA- Fabrik, Tempelhof
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen