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„Alle Fehler demokratisch legitimiert“

■ Wenn ÖTV-Funktionäre intern Klartext reden: Vertrauensleute leckten die Wunden ihres Streiks

Mit Engelszungen kämpfte das Führungstrio der Bremer ÖTV gestern bei den eigenen Funktionären um Verständnis — und um die eigenen Köpfe. 70 Delegierte der rund 1.000 Bremer ÖTV- Vertrauensleute waren am Nachmittag in den Clara-Zetikin-Saal des DGB-Hauses gekommen, um hinter verschlossenen Türen die Wunden ihres Arbeitskampfes zu lecken und Konsequenzen aus dem Dilemma der von der Gewerkschaftsführung verlorenen Urabstimmung zu beraten.

„Wir haben Fehler gemacht“, gestand der ÖTV-Bezirksvorsitzende Holger Wohlleben gleich als erster, „aber alle diese Fehler waren demokratische legitimiert.“ Zwar habe die verlorene Urabstimmung die ÖTV in eine „äußerst kritische Lage“ gebracht, aber Fortsetzung der Arbeitskampfes und neue Verhandlungen seien jetzt „einfach nicht mehr möglich“. In vielen Bereichen sei der Tarifabschluß schließlich auch gar nicht so schlecht, hatte Bremens ÖTV- Chefin Gisela Hülsbergen zuvor versichert, damit unter den anwesenden Vertrauensleuten allerdings nur Murren geerntet.

Der Bremer Streitkleiter, ÖTV-Sekretär Holger Aebker, schließlich versuchte seinen Funktionären vorzurechnen, daß eine Fortsetzung der Arbeitskampfes die ÖTV sogar in noch größere Schwierigkeiten gebracht hätte, als der schnelle Abschluß knapp unter dem Niveau des Schlichterspruches. „Bei den Bremer Müllwerkern wäre die dritte Streikwoche ein Desaster geworden“, versichterte Aebker, „da stand die Streikfront überhaupt nicht mehr.“ Ein anwesender Vertrauensmann aus dem Amt für Stadtreinigung widersprach ihm nicht.

Mitten in die Beratung der großen Tarifkommission sei sogar die Nachricht geplatzt, daß der Streik an Bremerhavener Schleusen zusammengebrochen sei, berichtete Holger Wohlleben. Und mit einer Unterstützung der IG Metall sei „frühestens in der vierten Streikwoche“ zu rechnen gewesen, so Aebker. Die gegenteilige Behauptung in seiner großen Streikrede auf dem Bremer Marktplatz sei lediglich „Geklapper“ gewesen.

Spätestens dieses Bekenntnis brachte dann doch noch etwas Schwung in die bis dahin eher resigniert zuhörenden Vertrauensleute. „Bis vor fünf Minuten habe ich dir voll vertraut“, rief ein ÖTV-Vertrauensmann aus dem Sozialbereich, „deine tolle Rede hatte uns damals mächtig Mut gemacht, und jetzt hast du alles gar nicht so gemeint.“ Eine Kollegin ergänzte: „Ich bekommen immer mehr das Gefühl, daß wir in dem Streik nur eine Dispositionsmasse waren.“

„Organisations-Chaos“ und eine Unterschätzung der Streikbereitschaft war der Bremer ÖTV-Führung von der Betriebsgruppe im Amt für Soziale Dienste Ost vorgeworfen worden. Mit „herablassenden Bemerkungen über streikwillige Beamte“ sei zudem die „Gefahr einer Spaltung der KollegInnenschaft“ geschaffen worden (vgl. auch Dokumentation).

Den Vorwürfen begegnete Streikleiter Holger Aebker mit einem weiteren „taktischen Argument“: „Vor der ersten Urabstimmung sind hier Vertrauensleute mit Forderungen von 13 bis 17 Prozent herumgelaufen, aber um die Frage der Streikbereitschaft in ihren Bereichen haben sie sich herumgedrückt. Da lag unsere Forderung von 9,5 Prozent genau richtig: Für 5,4 Prozent hätte doch niemand gestreikt, und dann hätten wir mit 4,7 abschließen müssen.“

„Wir müssen nachdenken, wie der große Tanker ÖTV in Tarifauseinandersetzungen durchschaubarer werden kann“, hatte ÖTV-Bezirkschef Wohlleben zu Beginn der Versammlung gefordert, sich gleichzeitig aber gegen eine „Personalisierung des Konflikts“ ausgesprochen. Die scheint — zumindest gestern — auch niemand zu wollen. Trotz der langen Latte an Kritikpunkten an der ÖTV-Führung gab es keine einzige Rücktrittsforderung in Richtung des Bremer ÖTV-Führungstrios. Dirk Asendorpf

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