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Golzow. Gelernte DDR-Bürger

Kurz nach dem Mauerbau begann in der DDR das längste Projekt der Filmgeschichte: 30 Jahre folgte die Kamera den „Kindern von Golzow“ von der Einschulung bis heute  ■ Von Roland Rust

Die kamen da an, und wir dachten, in einer Dreiviertelstunde sei alles vorbei.“ So erinnert sich Willi, eines der Kinder von Golzow, an die erste Begegnung mit dem DEFA-Dokumentaristen Winfried Junge. Das war 1961. Willi ist mittlerweile Mitte dreißig. Aus der Dreiviertelstunde wurden drei Jahrzehnte, in denen sich die Chronik der laufenden Golzower Ereignisse zur längsten Langzeitdokumentation der Filmgeschichte auswuchs. „Weltniveau“, wie die Golzower wohl noch vor kurzem gesagt hätten, reif für das Guinness-Buch der Rekorde. Zwanzig Millionen Zuschauer verfolgten ihre „Lebensläufe“ am Bildschirm. Mit dem größten Interesse dort, wohin der Weg ins Leben den Golzowern versperrt bleiben sollte: im kapitalistischen Westen. Der Film war ein Exportschlager, der das Loblied auf den realen Sozialismus etwas moderater vortrug und das konsumfreudige Lieschen Müller (West) mit der — frei nach Brecht — regierenden Köchin (Ost) friedlich koexistieren ließ.

„Warum gerade Golzow? Warum nicht Golzow?“, parierte Junge noch bis in die achtziger Jahre hinein alle etwaigen Einwände an der Wahl seines Themas. Die Golzower waren für ihn „immer repräsentativ“, gemessen an „den normalen Maßstäben der Wirklichkeit“. Kurzum „ein Stück DDR“ wie jedes beliebige andere auch. Wenige Jahre später wurde das gesamte Material von heute auf morgen „historisch“, das Auslaufmodell DDR zum Studienobjekt: „Biographien von Menschen einer versunkenen Gesellschaft“, wie Junge unlängst im 'Neuen Deutschland‘ resümierte. Ein Untergang, von dem die auf reichlich einhundert Kilometer Filmmaterial angewachsene Chronik freilich so gut wie nichts ahnen läßt.

Angefangen hatte alles im Spätsommer 1961 — und es fehlte nicht viel, und die „große Politik“ hätte den damals gerade sechsundzwanzigjährigen Absolventen der Babelsberger Filmschule um sein erstes Filmprojekt gebracht. Eine ganz gewöhnliche Schulklasse sollte ein paar Tage vor und nach der Einschulung mit der (versteckten) Kamera beobachtet werden: eine Idee des Dokumentaristen Karl Gass, dem Junge mehrfach assistierte und dem er kurz zuvor an das DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilm gefolgt war. Die Wahl fiel auf Golzow und seine schmucke, neu erbaute Zentralschule. Eine Tausend-Seelen-Gemeinde im Oderbruch, unweit der polnischen Grenze. Alles in allem leidlich rückständig, weshalb der anbrechende Fortschritt wohl desto imposantere Blüten treiben mußte. Die erste Klappe sollte Mitte August fallen — da kam vorab der Bau der Berliner Mauer dazwischen, der den Genossen Kameramann Hans Dumke gefechtsbereit zum Set am Checkpoint Charlie rief. Die Gefahr ward gebannt, so daß er am 28.August 1961 in Golzow ans Werk gehen konnte. Der denkwürdige Beginn einer „unendlichen Geschichte“ mit unabsehbaren Folgen.

Die allererste Sequenz: Kindergartenknirpse im staatlichen Buddelkasten. Junge, der Bilder symbolisch versteht, will darin die „Baustätte DDR“ vorgeprägt sehen. In der Rückschau allerdings will es eher scheinen, als wenn von Anfang an (um im Bilde zu bleiben) alles auf Sand gebaut war. Eine Viertelstunde lang strahlen blauäugige Gören einer überaus rosigen Zukunft entgegen. Nicht mehr lange, und sie werden als „Bürger der Deutschen Demokratischen Republik“ ihre Pflicht tun, versichert der Kommentar. Dazu sollte ein altehrwürdiger Mähdrescher seine Runden durchs kollektivistische Kornfeld ziehen. Der aber hätte das zukunftsfrohe Postkartenidyll womöglich getrübt, und somit zogen die Zensoren das unzeitgemäße Gefährt vorsorglich aus dem Verkehr. Wenn ich erst zur Schule geh'... (1961) gab — zunächst unbeabsichtigt — den Auftakt zur Chronik der Kinder von Golzow.

In (bislang) neun in sich abgeschlossenen Teilen wird der Lebensweg der Golzower von Kindheit und Jugendzeit über Abschlußprüfung und Berufsausbildung bis in die Gegenwart etappenweise weiterverfolgt. Ein Generationsroman, zu dem das Leben das Drehbuch schrieb. Eine Provinzchronik aus Dichtung und Wahrheit, die zur Chronik eines real nicht existierenden Landes wurde.

Nach einem Jahr. Beobachtungen in einer ersten Klasse (1962) macht man mit den ABC-Schützen bereits Staat. Die „jüngsten Bürger eines Staates, der noch von sich reden machen wird“ schreiten munter voran, wenn es mit blauem Pionierhalstuch durch Feld und Flur der sozialistischen Heimat geht. Elf Jahre alt (1966) nehmen die Golzower das Mikro einmal selber in die Hand und machen den Mund auf, wie sie es später — zumindest vor laufender Kamera — nie wieder tun werden. Man zerbricht sich den Kopf über den unmenschlichen Krieg in Vietnam und wie die Kinder im fernen Kamtschatka wohl ihre Ferien verbringen mögen. Am meisten zu denken gibt die Sage von Prometheus und dem fehlenden Geschöpf, fähig, die Erde zu beherrschen. Eine Welt, die sich grundsätzlich in Frage stellen läßt. Ein Hauch von Frühling, der die Träume locker in den Himmel treibt. Von da an ging es mit der Chronik zusehends abwärts. Wenn man vierzehn ist (1969) schlägt ein für allemal der Ernst des Lebens zu, mit Personalausweis, Jugendweihe und Staatsbürgerkunde-Unterricht. Die „Hausherren von morgen“ finden Aufnahme in der Gemeinschaft des werktätigen Volkes und schwören zum zwanzigsten Jahrestag „ihrer“ Republik auf Staat und Partei. In Reih und Glied pilgert man in ehemalige Konzentrationslager, Klassikerstätten sowie volkseigene Kombinate, und wer nicht ins aufpolierte Propagandabild paßte — wie beispielsweise Willi, der Sitzenbleiber — blieb außen vor. Die Prüfung (1971) zum Abschluß der zehnten Klasse entläßt die polytechnischen Oberschüler ins Leben, wo endgültig „etwas“ aus einem werden sollte, was man nie im Leben hatte werden wollen: Chemielaborantin, Offizier der NVA oder einfach Facharbeiterin für Grünanlagen. Eine Welt von Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten, in der alles seinen sozialistischen Gang geht.

Ich sprach mit einem Mädchen (1975) löst die zwanzigjährige Marie-Luise aus dem allmählich zerbröckelnden Kollektivverbund. Die früheren Klassenkameraden sind fast alle verheiratet. Als erster wurde Willi Vater und kam damit auch als erster an eine eigene Wohnung. Die weite Welt ist auf die eigenen vier Wände zusammengeschrumpft. Anmut sparet nicht noch Mühe (1979) versucht das seit 1961 gesammelte Material — getreu dem Motto der Kinderhymne von Brecht/Eisler — zur biographischen Gesamtschau einer Generation zu raffen. Einen penetrant pointierten Ton schlägt von nun ab der Kommentar aus der Feder von Hermann Kants jüngerem Bruder Uwe an, der auch die ambitionierten Lebensläufe (1980/81) streckenweise zu einem tönernen Koloß macht. In dem mit nahezu viereinhalb Stunden weitaus umfänglichsten und gewichtigsten Teil der Chronik blättert in neun Einzelporträts einiges von der Arbeiter-und- Bauern-Herrlichkeit verflossener Zeiten ab: dahin der Elan frohgemuter Aufbaujahre. Man hatte sich eingerichtet und war mit der Welt ein für allemal fertig. Der Rest war Lustlosigkeit und Langeweile, den Diese Golzower. Umstandsbestimmung eines Ortes (1984), ein später Nachzügler, umständlich übertünchte.

Bis ins Jahr 1999, dem 50.Jahrestag der DDR (im Jahr darauf geht Junge in Rente) reichten Planung und Sonderfinanzierung durch die Hauptverwaltung Film — da drohte dem Projekt plötzlich das Aus durch die große Politik. Seine Filmarbeit versteht Junge zuvorderst als Kampfauftrag. Der hat sich mit dem stürmischen Herbst '89 wenn nicht erfüllt, so doch erledigt. Dennoch sollte es mit dem einmal ins Rollen gebrachten Unternehmen weitergehen, wie gehabt, mit maximalen Kompromissen. Drei Einzelporträts à vierzig Minuten wurden auf die Bedürfnisse der neuen Auftraggeber (die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn) umgeschnitten. Das ging so leicht von der Hand, daß sich Junge von der didaktischen Gelegenheitsarbeit bereits wieder distanzierte.

Offizielles Opus10 soll demnach ein Werkstattbericht über die dreißigjährige Arbeit an der Chronik werden. Die nächsten Lebensläufe sind zur Centenarfeier des Kinos 1994 fällig. Das kündigte der vielbeschäftigte Filmemacher kürzlich auf den Tagen des unabhängigen Films Augsburg an, die neben der kompletten Golzow-Serie (alles in allem an die zehn Stunden) erstmals auch Material aus der Nachwende-Zeit (im Rohschnitt) zeigten. Auf dem Podium auch einige der Kinder von Golzow, die seitdem die Welt nicht mehr verstehen: Anschauungsunterricht zur Physiognomie einer besonderen Spezies Mensch, des geborenen und gelernten DDR-Bürgers. Ein zweischneidiges Unterfangen, dem die Augsburger die Spitze nahmen und die neuen deutschen Mitmacher wie rohe Eier aus dem real-sozialistischen Nest Golzow vor etwaigen Beschmutzungen beschützten. Allemal war das Faktische faszinierender, wo im „Normal-Fall“ eben deshalb alles so war, wie es eben war. Eine Utopie, die noch im verschleppten Durchhalten zur Bedenkenlosigkeit verführt. Was sind schon verwelkte Blütenträume im verordneten Paradies (das Äußerste an Systemkritik) gegen den eiskalten Wind der Marktwirtschaft?

Auf dem Internationalen Forum des Jungen Films der Berlinale 1982 rätselte der seinerzeit frischgebackene Nationalpreisträger Junge: „Die Frage ist nur: wann enden — und warum?“ Eine verblüffend einfache Lösung hat ein Jahrzehnt später der pfiffige Willi drauf: „Wir gehen praktisch nicht konkurs — wir lösen uns vorher auf!“

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