: Ganz, ganz weit weg vom Wähler
■ Drei Tage vor den Kommunalwahlen: Wie Kreuzberger Jugendliche zu Nichtwählern gemacht werden
Berlin. »Wir müssen nur in die Villa Kreuzberg gehen, da sind viele Jugendliche, die wir für die BVV-Wahlen interessieren können«, mag sich das Bezirksamt Kreuzberg gedacht haben, als es zu einer Diskussion einlud, in der Tacheles geredet werden sollte: Warum geben nur ein Drittel der WählerInnen ihr Kärtchen in die Wahlurne? Wie können Jugendliche überhaupt noch für Politik interessiert werden? Und — was gedenken die zukünftigen BVVlerInnen für die Jugendlichen im Bezirk zu tun? Die angesprochene Zielgruppe ahnte wohl Schlimmes und blieb der Veranstaltung fern — zu Recht, denn die eingeladenen PolitikerInnen von SPD/CDU/AL/Grüne/FDP sowie PDS dachten gar nicht daran, Zukunftsperspektiven von Jugendlichen im Bezirk zu entwerfen.
Der Moderator der Veranstaltung, Cluse Krings, machte es den Diskutanten auf dem Podium allerdings auch einfach, das Thema »Jugend im Kreuzberger Kiez« meilenweit zu verfehlen. Anstatt die Gelegenheit wahrzunehmen und die Dame (AL) und die Herren (alle anderen) in ihrem Zuständigkeitsbereich, der Jugendpolitik, festzunageln, griff er zur Gießkanne und wässerte das große Beet der deutschen Innenpolitik. Es kam, was kommen mußte: Langeweile, wie wir sie aus unzähligen Talkshows kennen. Die Atompolitik, die Hauptstadtfrage, Olympia, Jäger 90, Lenin, der Verfassungsschutz — bla-bla-bla.
Was soll denn auch ein 27jähriger Student, der bei der SPD außerhalb der BVV Jugendpolitik betreibt, zum Verhältnis SPD-ÖTV aussagen? Was intessiert die Privatmeinung eines Kommunalpolitikers der CDU zum Verkauf des Potsdamer Platzes an Mercedes? Gewiß, sie wäre sehr wichtig, wenn der Mann in einem Gremium säße, das den Verkauf zu verantworten hat. Sitzt er aber nicht, und so verkam die Diskussion zu einem Stammtischgeschwätz, wo jeder Beliebige zu jedem Beliebigen Beliebiges zum besten gibt. Die Namen der DiskutantInnen sind unwichtig, die hätten auch per Los aus dem Publikum bestimmt werden können, das vorwiegend aus Parteifreunden/-genossen bestand, die weit jenseits eines jugendlichen Alters waren, auch wenn man das bis zum 35. Lebensjahr gelten ließe. Nicht ein Wort zur Jugendarbeitslosigkeit, Jugendgangs, Wohnsituation, Jugendkultur in der Stadt, nicht ein Gedanke zur Rattenfängerei der Neo-Konservativen und Faschisten. Erst zum Ende der über dreistündigen (!) Quasselei platzte einem der fünf Jugendlichen der Kragen. Er fragte, was die Kiezfürsten für die jugendlichen Drogenabhängigen zu tun gedächten. Natürlich waren alle dafür, soweit es die angespannte Haushaltslage zuließe, Therapieplätze zu erhalten, einen Weg zu finden, über Präventivmaßnahmen das Abgleiten in die Kriminalität zu verhindern, falls das Geld da sei...
Und schon gab es wieder das übliche Gerangel um Kompetenzzuweisungen, Vorwürfe und Anschuldigungen, Erklärungen, Widersprüche und Zurückweisungen der Widersprüche, das übliche und wie immer unersprießliche Parteiengezänk, das den Parlamentarismus für einen Jugendlichen nicht gerade attraktiv macht, der auf eine klare Frage eine halbwegs einleuchtende Antwort erwartet. Natürlich gibt es auf schwierige Fragen nicht immer einfache Antworten, aber Konzepte mit Prioritäten und die dazugehörenden Alternativen darf man auch von Kommunalpolitikern erwarten. Statt dessen wurde in der Villa Kreuzberg gewitzelt und gegrient, mal über das Outfit des Moderators, mal über die Stasi, mal über Wahlplakate. Allgemeines Schulterklopfen, nur der Vertreter der PDS wurde nicht aufgenommen in den Club der Selbstgefälligen. Die »Republikaner« wurden von den Veranstaltern gar nicht erst eingeladen, wozu auch, es interessiert ja nicht, wie diese Leute zu ihren Wahlerfolgen kommen. Es war gut, daß nicht mehr Jugendliche dieses Trauerspiel mitverfolgen konnten, sonst wäre ihnen vielleicht die letzte Hoffnung genommen worden, bei der kommenden BVV-Wahl etwas mit ihren Stimmen bewirken zu können. Gleich nebenan, im Café der Villa, war es proppenvoll. Jazzsession, Partystimmung, jede Menge junges Wahlvolk. Die JugendpolitikerInnen schlichen an den Leuten vorbei, als sei ihnen so etwas fremd, fremd geworden, ganz, ganz weit weg. So wird es wohl sein. Werner
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